von Attila Király
Der auch vielen Laien gut bekannte theoretische Physiker Stephen Hawking wurde am 15. Juni in der berühmten Londoner Westminster Abbey beigesetzt, in der Nähe der Gräber Isaac Newtons und Charles Darwins. Die Erkenntnisse von Astrophysikern, Paläontologen oder Klimaforschern werden auch von Sozialwissenschaftlern gern zur Kenntnis genommen. Daraus ergeben sich Folgerungen in Bezug auf die Galaxis, auf Saurier oder die Rettung der Ökosphäre, die man gern referiert. Sobald es jedoch an den Menschen geht, lehnt der gemeine westliche Sozialtheoretiker naturwissenschaftliche Erkenntnisse ab. Anders wären Vorstellungen, es gäbe bei der Spezies Mensch 37 verschiedene Geschlechter – woraus sich die Forderung nach der dritten Klotür in öffentlichen Bedürfnisanstalten ergibt – oder die Geschlechterrollen von Mädchen seien reine Erziehungssache, nicht möglich.
Das ist bei aus der DDR kommenden Marxisten anders. Die materialistische Grundposition, dass es Gesetzmäßigkeiten in Natur, Gesellschaft und Denken gibt, die auch miteinander zu tun haben, ist Grundlage auch sozialtheoretischer Analyse. Insofern ist es selbstverständlich, dass der Mensch als bio-psycho-soziales Wesen zu betrachten ist. Oder anders: kein Sozialverhalten ohne biologische Grundlagen. Ganz in diesem Sinne hatte der Berliner Philosoph Hartwig Schmidt als Redakteur der Zeitschrift Berliner Debatte Initial Anfang der 1990er Jahre eine Diskussion angeregt, die in der Zeitschrift und anschließend 1994 als Buch publiziert wurde: „Ist der Mensch paradiesfähig?“
Das hatte auch mit dem Bestreben zu tun, das Scheitern des Realsozialismus zu verstehen. In der Anfrage an die Autoren, nachzulesen auch im Vorwort, hieß es: „Könnte es sein, dass das sozialistische Projekt scheiterte, weil die ,sozialistische Rechnung‘ ohne die menschliche Natur gemacht wurde? Kam vielleicht deshalb das Gegenteil der ursprünglichen Ideale heraus, weil der Mensch von Natur aus gar nicht für ein Streben nach Idealen taugt? Diese oder ähnliche Fragen wurden in den nachwendischen Diskursen oft aufgeworfen. SozialwissenschaftlerInnen und sozialwissenschaftlich Interessierte scheinen sensibilisiert für Anthropologie, Humanethologie und Verhaltensbiologie. Zumal das sozialistische Projekt nicht der einzige gesellschaftlich dimensionierte Emanzipationsversuch ist, der wegen seiner unbeabsichtigten Folgen sehr nachdenklich stimmt.“
Heute wissen wir, dass der „alte Adam“ nicht nur zum „neuen Menschen“ des Sozialismus nicht taugte, sondern auch nicht zum „Homo oeconomicus“ des Neoliberalismus.
Hartwig Schmidt und Heide Damaschun, die die „interdisziplinäre wissenschaftliche Debatte“ damals mitbetreute, hatten Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete zu Beiträgen eingeladen. Der klinische Psychologe Hellmuth Benesch aus Mainz betonte: „Der Mensch ist nicht paradiesfähig, aber verbesserungsfähig.“ Der Biologe Hans Mohr aus Freiburg betonte, dass unsere „erste Natur“, mit der wir „fest in der biologischen Evolution verankert sind“, uns heute im Wege steht. „Der Mensch unserer Tage stößt global an seine natürlichen Grenzen. Die Grenzen quantitativ-expansiven Wachstums wurden nicht herbeigeredet; sie sind real. Die weltweite Umweltkrise ist eine Begrenzungskrise, und sie besteht darin, dass der Mensch mit seinem Anspruch an Ressourcen und Abfalldeponien weltweit über die Tragekapazität der Umwelt hinausschießt und damit seinen Untergang riskiert.“ Das wurde vor 25 Jahren geschrieben. Und nichts hat sich geändert. Verhaltensbiologisch handelt es sich um das „Hineinrutschen in eine mentale Wohlstandsfalle“: Je besser es einem geht, desto geringer ist die Bereitschaft zur Veränderung. Das Ergebnis ist eine risikoscheue und fortschrittsfeindliche Gesellschaft.
Gleichwohl betonte der Verhaltensbiologe Günter Tembrock, dass wir die „Hölle auf Erden“ verhindern können. Der Philosoph Peter Ruben fragte, ob in Sachen Realsozialismus je von „Paradies“ die Rede war. Das „weltliche Desaster der kommunistischen Parteiherrschaft“ müsse „weltlich“ thematisiert und erklärt werden. Dagmar Richter schrieb über den „patriarchalen Trümmerhaufen“. Der Theologe und Soziologe Hans Joas bezog sich auf Immanuel Kant: „Für die Stabilisierung der Bewohnbarkeit der Erde werden wir weder in der Natur des Menschen noch in seiner Geschichte, nicht in einer Logik des Fortschritts oder der Zivilisation, eine Garantie finden. Und doch ist das Problem, laut Kant, selbst für ein Volk von Teufeln nicht unlösbar: wenn sie nur Verstand haben!“
Auch der österreichische Zoologe, Evolutionsbiologe und Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld, der damals die Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft Andechs leitete, steuerte einen Beitrag bei, den er mit „Zuversicht“ überschrieb. Er betonte, dass das menschliche Streben nach Macht und Ansehen ein altes Erbe ist, „denn die meisten in Gruppen lebenden Säugetiere bilden Rangordnungen“. Zugleich sei „Fremdenablehnung“ nicht nur herbeigeredet. Menschengruppen – „Völker“ – grenzen sich von anderen ab und bewohnen ein Gebiet, das sie als ihre Lebensgrundlage verteidigen. Diese „Fremdenfurcht“ bedarf „keinerlei schlechter Erfahrungen mit Fremden“. „Wir Menschen reagieren mit Abwehr, wenn wir unsere Identität bedroht meinen, und dieser Fall tritt ein, wenn sich Menschen in großer Zahl in einem bereits dicht besiedelten Gebiet niederlassen, ohne die Kultur und Lebensart der Ortsansässigen anzunehmen. Dann werden sie als Fremde und als um die gleichen Ressourcen konkurrierende Eindringlinge empfunden. Und diese Wahrnehmung ist nicht unbegründet, denn sich abkapselnde Einwanderer bilden ja Solidargemeinschaften, die zunächst ihr Eigeninteresse vertreten. Unterscheiden sie sich überdies durch eine höhere Fortpflanzungsrate von der eingesessenen Bevölkerung, dann verschärft das die Probleme und die daraus erwachsenden Gegensätze. Ganz anders liegt dagegen der Fall, wenn es sich um kulturell, biologisch, anthropologisch nahestehende Einwanderer handelt. Sie werden in der Regel rasch eingemeindet.“
Eibl-Eibesfeld ist am 2. Juni 2018 in Starnberg gestorben. Er wurde fast neunzig Jahre alt. Im Laufe seines Lebens ist er zuweilen als „Rechter“ beschimpft worden, weil seine Forschungsergebnisse nicht in modische sozialwissenschaftliche Raster passen. Seine zentrale Folgerung damals jedoch war: Der Mensch ist friedensfähig. Dafür aber müssen wir mehr über uns selbst wissen. Wir haben in der Forschung erstaunlich viel über die uns umgebende Welt ermittelt. „Uns selbst dagegen beherrschen wir nur mangelhaft. Wir scheuen vor Forschung über uns selbst zurück und überlassen die Menschenführung den Ideologen, nicht gerade zu unserem Vorteil, wie die Geschichte bis in die Gegenwart lehrt.“ Das ist auch 2018 wieder sehr aktuell.
Schlagwörter: Attila Király, Evolutionsbiologie, Irenäus Eibl-Eibesfeld, Verhaltensforschung