von Bernhard Romeike
Kürzlich erschien ein Buch über die Organisation der Vereinten Nationen und die verschiedenen UNO-Aktivitäten. Autor ist der Journalist Marc Engelhardt, der seit Jahren zu diesem Themenkreis geschrieben hat. Unter Verweis auf UN-Generalsekretär António Guterres betont er, die Weltorganisation befinde sich in einer schweren Krise, sei aber nötiger denn je. Konzeptionelle Schwäche ist auch hier, dass die UNO mit „westlichen Werten“ identifiziert wird. Engelhardt wirft China, Russland, Indien und anderen Staaten vor, auf „Staatssouveränität“ zu bestehen.
Im Anhang des Buches ist die UN-Charta abgedruckt, in deren Artikel 2 sich der Gleichheitsgrundsatz und das Einmischungsverbot finden. Dass die UNO im Kalten Krieg dabei beitragen konnte, einen Atomkrieg zu verhindern, beruhte nicht nur auf dem völkerrechtlich verbindlichen Friedensgebot, sondern vor allem auf dem Einmischungsverbot – bei entgegengesetzten Vorstellungen von geistigen Werten. Anders ist Vertrauen zwischen den Großmächten auch im 21. Jahrhundert nicht zu erreichen. Das braucht ein weiterentwickeltes Verständnis von friedlicher Koexistenz. USA-Präsident Trump wird von Engelhardt verurteilt, er sei Nationalist und habe „den Austritt der USA aus dem Wertesystem erklärt, das sie seit dem Zweiten Weltkrieg angeführt haben“. Dem Autor ist augenscheinlich entgangen, dass die USA infolge jahrzehntelanger globaler Interventionspolitik imperial überdehnt sind.
Im hinteren Teil des Bandes findet sich eine schöne Geschichte über die Wahl des früheren portugiesischen Premiers António Guterres zum UNO-Generalsekretär. Für Engelhardt ist das ein Exempel für die Ausweitung der Kompetenzen der Vollversammlung gegenüber dem Sicherheitsrat und insbesondere seinen fünf Ständigen Mitgliedern. Der Autor traf Mogens Lykketoft. Der frühere dänische Außenminister war von September 2015 bis September 2016 Präsident der 70. UN-Vollversammlung. Lykketoft nannte den Vorgang „seinen Coup“. Im September 2015, während der letzten Tage der 69. Vollversammlung, war der Beschluss gefasst worden, einen „informellen Dialog“ zwischen der Vollversammlung und den Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs zu zu führen. Begonnen werden sollte der mit einem Brief, der von zwei Repräsentanten der UNO unterzeichnet werden musste: dem Präsidenten der Vollversammlung und dem Präsidenten des Sicherheitsrates, dessen Vorsitz jeden Monat wechselt. Als die Reihe an den britischen UNO-Botschafter Matthew Rycroft kam, wurde der Gemeinsame Brief abgefasst und unterschrieben. Er gab Lykketoft freie Hand bei der Organisation des Dialogs.
Der Generalsekretär wird von der UNO-Vollversammlung gewählt, jedoch „auf Empfehlung“ des Sicherheitsrates. Praktisch konnte also jedes Ständige Mitglied die Neu- oder Wiederwahl eines Generalsekretärs verhindern. So verhinderte die Regierung Bill Clintons 1996 die Wiederwahl des sehr angesehenen Ägypters Boutros Boutros-Ghali. Davon schreibt Engelhardt allerdings nichts. Bei ihm ist nur die Rede davon, wie Lykketoft den russischen Botschafter ausmanövrierte. Jedenfalls wurden frühere Kandidaten oft in letzter Minute ausgehandelt und der Vollversammlung vorgeschlagen, auch wenn die meisten die jeweilige Person nicht kannten.
Eigentlich war Osteuropa die einzige Region, die in der Geschichte der UNO noch keinen Generalsekretär gestellt hat. Nach den informellen Regeln hätte nun endlich ein Osteuropäer gewählt werden sollen. Außerdem galt als ausgemacht, dass erstmals eine Frau dieses Amt übernehmen sollte. Doch die Osteuropäer konnten sich auf keine Kandidatin einigen. So veranstaltete Lykketoft Anhörungen, bei denen jede Kandidatin und jeder Kandidat eine zehnminütige Vision für die UNO präsentieren und sich anschließend einer zweistündigen Fragerunde stellen musste. Die Anhörungen wurden im Internet übertragen, am Ende wurde ein von Al Jazeera gesendetes Fernsehduell veranstaltet. Von Juli bis Oktober 2016 gab es „Vorwahlen“, deren Ergebnisse als „streng geheim“ galten, tatsächlich jedoch über Twitter publik gemacht wurden. Am Ende galt Guterres als Favorit und wurde schließlich gewählt. Der russische Botschafter hatte sich nicht dazu verstehen wollen, das Verfahren im Nachhinein infrage zu stellen. So weit die schöne Geschichte, von deren Ausgang der Autor ebenso wie der frühere dänische Außenminister und Präsident der 70. Vollversammlung meint, er habe die Realität „für immer“ verändert.
Es gibt aber auch noch eine andere Geschichte. Als Kandidatin für das Amt des Generalsekretärs galt ursprünglich die Bulgarin Irina Bokova. Sie war von 2009 bis 2017 sehr erfolgreich als Generaldirektorin der UN-Kulturorganisation UNESCO tätig. Die USA haben ohnehin ein gespanntes Verhältnis zu dieser Organisation, im Moment sind sie gerade mal wieder ausgetreten, wegen „anti-israelischer Positionen“ der UNESCO. Bokova galt im Westen zudem als „russlandfreundlich“. Sie hatte „an der Militärparade Moskaus zur Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg“ teilgenommen, „während Russland die Krim annektierte“ (Deutschlandfunk am 20. September 2016).
Am Ende gab es zwölf Kandidaten, sechs Frauen und sechs Männer, darunter auch die früheren Außenministerinnen von Moldau und Kroatien, ferner den slowakischen Außenminister, der wiederum den Makel hatte, in Moskau studiert zu haben. So war der Beteiligung von Frauen ebenso wie einer Bewerbung aus Osteuropa formal Rechnung getragen.
Am Ende kam Guterres heraus. Lykketoft heuchelte Enttäuschung: „Es war eine Überraschung für mich und viele andere, dass die weiblichen Kandidaten nicht besser abschnitten. Da wir doch eine so lange Debatte über die Notwendigkeit hatten, eine Frau zu wählen.“
Eine Debatte über die Notwendigkeit einer Sache ist allerdings nicht die Sache selber. Die Westeuropäer, mit offensichtlicher Unterstützung der USA, hatten ihre Positionen in Vollversammlung und Sicherheitsrat genutzt, um einen Westeuropäer – der nach regionalem Proporzsystem gar nicht dran war – zum UN-Generalsekretär zu machen. So war erreicht, dass der Westen in schwierigen Zeiten diesen Posten in der Hand hat, und dass es keine „prorussische“ Generalsekretärin gibt. EU-intern betrachtet hatten die Westeuropäer den Ostlern wieder einmal vorgeführt, wer im Zweifelsfalle das Sagen hat.
Marc Engelhardt: Weltgemeinschaft am Abgrund. Warum wir eine starke UNO brauchen. Ch. Links Verlag, Berlin 2018, 272 Seiten, 18,00 Euro.
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