von Kai Ehlers
Es wird Zeit, sich darauf zu besinnen, dass Neutralität die einzige sinnvolle Lehre aus den beiden Weltkriegen sein kann, die beide Male von deutschem Boden ausgingen, deren Folgen auch in unserem Land bis zum heutigen Tag noch spürbar sind. Neutralität muss heute Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen deutscher Politik sein, bevor Deutschland ein drittes Mal zum Schauplatz der Konfliktaustragung zwischen Ost und West im globalisierten Rahmen werden kann. Denn in Deutschland läuft – historisch gewachsen – die Scheidelinie zwischen Ost und West.
Deutschland ist nicht Ost, Deutschland ist nicht West; Deutschland ist Mitte zwischen Ost und West. Deutschland hat intensivste Bindungen an Russland und den ganzen russischen Raum, den ganzen östlichen Raum, und Deutschland hat intensivste Bindungen an den westlichen Raum, insofern der westliche Raum, der angelsächsisch-amerikanische zu großen Teilen auch aus der mitteleuropäischen, nicht zuletzt auch aus der deutschen Entwicklung hervorgegangen ist.
Das alles gilt, wenngleich sich der amerikanische Raum selbstständig gemacht, die europäische Kultur hinter sich gelassen und sich extrem veräußerlicht hat. Auch der russische Raum hat seine europäischen Wurzeln hinter sich gelassen und sich auf einen eigenen Entwicklungsweg gemacht. Die Gefahr besteht, dass diese beiden polaren Tendenzen wieder einmal aufeinanderprallen, wie eben erst in der jüngsten Geschichte, jetzt noch verstärkt durch das chinesische, das asiatische Element im Osten und – wie es sich in letzter Zeit andeutet – durch das arabische Element auf „westlicher“, genauer, das saudi-arabische auf amerikanischer Seite.
Wenn sich diese Frontlinie weiter entwickelt, wie gegenwärtig zu befürchten, wenn sie sich sogar verfestigt, dann geht die Welt, konkret Europa, Mitteleuropa, noch konkreter Deutschland einer ganz schweren Zeit entgegen. Sehr unwahrscheinlich ist jedenfalls beim Stand des gegenwärtigen Aufmarsches an den russischen Grenzen, speziell der Stationierung von NATO-Schalt- und Kommandostellen in Deutschland, dass die ballistischen Flüge den kurzen Weg über den Pazifik, statt, wie in der „Sicherheits“-Planung der NATO angelegt, über den Atlantik nehmen.
Selbstverständlich ist eine Neutralität Deutschlands, glaubt man der herrschenden Politik, heute ganz und gar unrealistisch, nachdem sie in den Jahren nach 1945 durch die Alliierten erfolgreich verhindert wurde Die Anbindung Deutschlands an das atlantische Bündnis gilt den atlantischen Planern heute als „alternativlos“, um die „Sicherheit“ Europas und Deutschlands zu garantieren. Tatsächlich erweist sich dieser „Realismus“ aber als ganz und gar unrealistisch, um nicht zu sagen, als gigantische Lüge, wenn es darum geht, eine friedliche Zukunft Europas und darin Deutschlands zu sichern, wenn man sieht, wie eben diese „realistischen“ Verhältnisse auf eine neuerliche Zuspitzung des Ost-West Konfliktes zulaufen, wenn man sieht, wie die Europäische Union, halb als Vasall, halb als Avantgarde der strauchelnden „einzigen Weltmacht“ wieder zur Weltgeltung spurtet, und, mit einem Deutschland als Kern darin, schnurstracks auf die nächste große Konfrontation zusteuert.
So gesehen erweist sich der herrschende „Realismus“ als Wahn, der Deutschland direkt in die nächste Katastrophe zu führen droht. Eine realistische Perspektive, die diesen Namen verdient, kann allein in der Entwicklung eines Deutschland liegen, das sich von einseitigen Bündniszwängen löst und stattdessen als neutrale Mitte seine ganze Kraft in die Auflösung der kriegstreibenden Polaritäten legt.
„Seine ganze Kraft“, damit ist selbstverständlich nicht nur Deutschlands ökonomische Potenz als „Exportweltmeister“ und Finanzier der Europäischen Union, schon gar nicht, versteht sich, seine militärische Stärke, gemeint, sondern sein nachimperialer, nachfaschistischer, demokratischer Kulturimpuls, der in der Welt heute, zunehmenden Einschränkungen zum Trotz, immer noch Seinesgleichen sucht. Diesen Impuls gilt es zu schützen, zu fördern und zum Wohl einer sich herausbildenden neuen Völkerordnung wirken zu lassen, in deren Aufgabenbuch die Förderung der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze der heutigen Welt steht – unabhängig von ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschieden.
Also noch einmal: Die Entwicklung der Idee der Neutralität als Raum zur Förderung gegenseitiger Hilfe ist das, was in Deutschland heute zu allererst angegangen werden muss, wenn wir die Chance haben wollen, den Übergang aus der unipolaren in eine multipolare Welt gestärkt zu überleben.
Schlagwörter: Kai Ehlers, multipolare Welt, Neutralität