von Eckhard Mieder
Am 16. Februar 1968 meldete BILD, einer der gefährlichsten Gangster der Bundesrepublik sei ausgebrochen: Arthur Liebe (23), der „Itzel“, war geflitzt. Sein Bruder Friedrich, genannt Sherro, auch seit einem Dreivierteljahr hinter Gittern, jubelte. Arthur sei eben ein ganzer Kerl.
War er vorher ein halber Kerl oder ein Hundertstel Kerl? Und ist ein ganzer Kerl jemand, der sein Ding durchzieht, hart und gnadenlos, wie einer, der mit seinem Revolver eine sattfette Fliege von der Glatze des Direktors schießt, dessen Bank er gerade von seinen Komplicen ausrauben lässt? Ein ganzer Kerl dürfte im Kauderwelsch von Ganoven ein zweifelhaftes Kompliment sein – misst man es am Denk- und Sprachgebrauch braver Bürgersleut.
Mit Arthur, den die Polizei schnell wieder hatte, war der Kopf einer Truppe ausgbüxt, die über 19 Mitglieder verfügte und rheinab- und -aufwärts vier Jahre lang über die Dörfer gezogen war, stahl, log und betrog. Eine Beute-Meute, die aus Artisten, Schaustellern, Hausierern, Gelegenheitsarbeitern, einer Barfrau bestand. Jeder mit jedem versippt oder verschwägert.
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Der pensionierte Staatsanwalt Karl-Josef Paltzer (84) ist ein hochgewachsener Mann, der sich grade hält, unter der Strickjacke einen Binder trägt und dessen weißes Haupthaar licht und korrekt geschnitten ist. Es ist nicht selbstverständlich, dass er mich an diesem sonnigen Märztag 2011 in seinem Bonner Stadthaus empfängt: Er hält sich an Dienstwege, und dem Besuch war eine Bitte an den Leitenden Oberstaatsanwalt in Bonn und dessen Placet vorangegangen. Der hätte „keine Bedenken gegen das gewünschte Gespräch“ und habe mein Anliegen dem „Herrn Ersten Staatsanwalt a. D. Karl-Josef Paltzer zugeleitet“.
Paltzers Vater war Richter, sein Sohn ist Richter. Er selber wäre gern auch Richter geworden, aber 1954 habe man Staatsanwälte gebraucht. Oder ob er, wenn schon nicht Richter, lieber Rechtsanwalt geworden wäre, frage ich. Die hätten doch eher die Sympathie der Leute. Paltzer bietet Kekse und Tee an, lächelt und sagt altersmilde: „Jaja, der Staatsanwalt, und dann der Henker!“ Merke: Das Rheinländische taugt zur Lakonie.
Es ist auch nicht selbstverständlich, dass er mir am Ende des Gesprächs einen lange im Keller verwahrten Schnellhefter mit den handschriftlich verfassten Anklagen gegen die Mitglieder der Liebe-Bande überlässt. „Nehmen Sie den Hefter mit.“ Paltzer war und ist Jurist und Rheinländer, er kann jönne und loslasse. Dass er die Anklagen überhaupt aufgehoben hat, mag daran liegen, dass der Prozess gegen die Liebe-Bande einer der Höhepunkte seiner juristischen Karriere gewesen war.
Paltzer hatte im mehrmonatigen Prozess bis zum Juni 1967 sechs Stunden zum Verlesen der Anklage gebraucht. Auch ein Dienstweg: Jedes Vergehen muss jedem einzelnen Angeklagten detailliert und beweisfest zugeordnet werden, und bei 350 erkannten Straftaten („Ich schätze, es waren mehr als 600“, sagt Paltzer) dauerte der Vortrag des Staatsanwalts eben eine Weile. Der Mutter der Brüder Arthur und Friedrich fielen beim Zuhören der irgendwie immer anderen und doch immer gleichen Straftaten die Augen zu.
Ihre Zielobjekte waren einzeln stehende Häuschen und Dörfer und Ortsteile, die vom neuen Wohlstand der Bundesrepublik nur unzureichend erfasst waren. Ihre Zielpersonen waren Rentner und Witwen, Menschen, die Kriege, Inflation, Währungsreform, Verluste leibhaftig erlebt hatten. Ihre Masche war rücksichtslos perfide, gerade weil sie auf die Schwachen zielte.
Mal traten sie als Vertreter der Bauämter auf, die sich um die Statik der lädierten Häuser sorgten, oder sie gaben sich als Schädlingsbekämpfer im Auftrag der Baupolizei aus, die im kriegsgeschädigten Haus ein Spezialpräparat einsetzen würden. Wer würde nicht froh sein, kümmerte sich „der Staat“ um einen, wer würde die Helfer nicht hereinlassen und eine gewisse Vorauszahlung leisten? (Während einer der Trickbanditen die Wände untersuchte – „um zur Beseitigung der von ihm angeblich im Mauerwerk des Hauses festgestellten Flüssigkeit Genehmigung erteilen zu können“ – und den Rentner ablenkte, „begab sich seine Mittäterin in das Schlafzimmer des Geschädigten, durchsuchte dasselbe und stahl aus einem Schraubglas, das der Rentner in seinem Bett versteckt hatte, 700 DM.“)
Mal kamen sie als Vertreter des Deutschen Roten Kreuzes und sammelten beispielsweise für die Opfer des Erdbebens in Skopje 1963. Wer, wenn nicht diejenigen, die selber Not kannten, würde anderen in Not nicht helfen?
Mal setzte die „Mädi“, die blonde Bandenschönheit, ihre Reize ein, bot einem älteren Herren, dessen Frau verreist war, nicht nur ihre Kochdienste an und – stibitzte ein paar Mark aus dem Portemonnaie, als der „erglühte Greis“ in den Keller nach Kartoffeln ging. Mit dem Versprechen auf die kommende Nacht und mit einer weiteren „Anzahlung“ von 50 Mark verschwand die Sophie.
Mal „gab sich die Angeschuldigte Sophie Barber als eine Schwester eines Vetters der Hausfrau aus und versuchte ihr in einem mehrstündigen Gespräch klarzumachen, dass eine Währungsreform bevorstehe und dass sie die Möglichkeit habe, DM in Dollars umzutauschen“. Die Geschädigte glaubte der überzeugend auftretenden Bekannten eines Verwandten „und händigte ihr 100 DM, fast ihr gesamten persönlichen Ersparnisse seit der Währungsreform aus“. (Zitate aus den Anklageseiten des Staatsanwalts Paltzer). Am Ende und in summa hatten sie mindestens 150.000 Mark ergaunert.
Weil damals nicht alle Zeugen und Beschädigte vor Gericht auftreten konnten – zu alt, zu krank, zu weit weg in den Dörfern –, machte sich das Gericht auf den Weg zu ihnen. Karl-Josef Paltzer, Leiter der Sonderkommission „Trickbande Land“, ein Justizangestellter und Arthur Liebe klapperten die Tatorte ab. Auf den Spuren der „größten und erfolgreichsten Trickbetrügerbande der Nachkriegszeit“ (Staatsanwaltschaft Bonn) erlebte der Staatsanwalt einen mitteilungsfreudigen (galt er unter Ganoven deshalb nicht als „ganzer Kerl“, weil er plauderte?) Bandenchef. „Wir sind durch die Dörfer gezogen, um Zeugen zu verhören, die nicht mehr zum Gericht kommen konnten. Dann haben wir Mittagspause gemacht. Kam der Arthur mit dem Justizwachtmeister an den Tisch und kriegte ein Essen spendiert. Und Kaffee trinken.“ Einer der „gefährlichsten Gangster der Bundesrepublik“ als „irgendwie liebenswerter Kerl“ (Paltzer).
Vor Gericht platzierte sich Arthur Liebe als eloquenter, gewitzter, semi-intellektueller Kopf. Nicht unbedingt jener ganze Kerl, den sein Bruder Friedrich ein halbes Jahr später wegen seines Ausbruchs lobte, aber der „beweglichste, der geistig beweglichste“, wie Staatsanwalt a. D. Paltzer zu schätzen weiß.
Arthur spricht über das Leben der Landfahrer*, die als „verachtete, unterdrückte, ausgestoßene und von anderen gemiedene Menschen“ keinen Platz in der Gesellschaftsordnung hätten. Als Reaktion „auf die feindliche, verständnislose Umwelt“ käme es zum „Widerstand gegen alles Recht und alle Ordnung, gegen Behörden und Gerichtsbarkeit“, schrieb der Spiegel 1967.
Zwei andere Mitglieder der Bande, die „Zigeuner-Brüder Heilig“ verwahrten sich gegen Arthurs hochtrabende Gedanken: „Wir haben nichts mit den Landfahrern gemeinsam. Das sind für uns nur Aasfresser, mit denen wir höchstens Geschäfte machen dürfen. Alte Menschen achten wir, auch wenn sie nicht zu unseren Sippen gehören“, zitierte sie Die Zeit. Dass die Heiligs, wie die anderen Ganoven, ausschließlich alte Leute abzockten – das gehört zur Logik ganzer Kerle.
Arthur Liebe sagte in seinem Schlusswort: „Ich bekenne mich schuldig, eine lange Reihe unverantwortlicher, verwerflicher und verachtungswürdiger Straftaten begangen zu haben. Ich schäme mich und würde gern alles tun, das Geschehene ungeschehen zu machen […] Ich danke Gott, dass er mir die nötige Intelligenz gegeben hat, um rechtzeitig zu erkennen und eine Lehre fürs Leben aus allem zu ziehen. Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden.“
Staatsanwalt und Beschuldigter begegneten sich später, nachdem Arthur Liebe zwei Drittel seiner sieben Haftjahre verbüßt hatte und entlassen worden war, auf einem Rummel und waren sich herzlich zugeneigt.
Der „Itzel“ habe in die Zirkusfamilie Kaiser eingeheiratet. Er sei mit einem Projektor über die Dörfer gefahren und habe bei Pastoren und Bürgermeistern um einen Raum für eine Filmvorführung gebeten. „Die Dorfbewohner waren glücklich, dass sie mal was anderes zu sehen kriegten und nicht in die Stadt fahren brauchten. Sie können sich nicht vorstellen, wie primitiv die Leute teilweise waren. Kein Fernsehen, kein Radio. Und das würde heute nicht mehr klappen: mit irgendeinem Stempel von irgendeiner Behörde auftauchen, jemanden in ein Gespräch verwickeln, während der Kumpan den Wäscheschrank nebenan durchwühlt. Oder um einen Gang zur Toilette bitten.“
Doch darin irrt der Staatsanwalt a. D. Der Phantasie und Energie von Trickbetrügern waren und sind keine Grenzen gesetzt. Ich kenne zwei Gegenwartsgeschichten aus dem Familien- und Freundeskreis – in der einen wird jemand von einem angeblichen Kriminalbeamten am Telefon genarrt, in der anderen tauchen zwei Bedürftige an der Wohnungstür auf, bitten um einen Zettel und einen Stift, weil sie eine Nachricht bei einem Nachbarn hinterlassen wollten. Aber das gehört zu einem anderen „Pitaval“.
* – Landfahrer (fahrendes Volk, Gängler, Vagabunden) wurden im Sittenverständnis der 60er Jahren kaum von den Millionen Vertriebenen des Krieges, von Arbeitsmigranten, Asylsuchenden, Flüchtlingen unterschieden. Allerdings zog das fahrende Volk umher, während die anderen teilweise in Barackencamps lebten. Das Buch „50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung“ (Campus Verlag 1999) erzählt die Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Landfahrer wurden seinerzeit zu den „asozialen“ Ausländern gezählt. Am 21. Juni 1956 hieß es im Bundestag, dass der „heimatlose Ausländer auf der Suche nach wirtschaftlicher Versorgung und politischem Asyl vollends Teil einer ruhelosen Massen geworden, die die Bundesrepublik bedroht“. Und bezogen auf das Leben in ‚Lagern‘: „Wenn es aber Sinn aller Flüchtlingsarbeit sein soll, die Flüchtlinge einzuwurzeln, d.h. sie wirklich in der ansässigen Bevölkerung einheimisch werden zu lassen, dann wird in solchen Lagern das Gegenteil erreicht. Hier entsteht ein wurzelloses Proletariat, das, krank an Leib und Seele, von der Bevölkerung als Fremdkörper, als eine Art Zigeuner angesehen wird und schließlich die Bevölkerung selbst vergiften wird“ (ebenda). In den Debatten, die am 28. April 1965 im Ausländergesetz münden, wird nicht nur die Anwesenheit vorbestrafter oder „asozialer“ Ausländer, sondern auch einfach deren zu große Zahl als Gefährdung der Belange der Bundesrepublik angesehen. Und zu jenen „asozialen Ausländern“ zählten auch Prostituierte, Landstreicher und Landfahrer. So wird die Landstreicherei – „das gewohnheitsmäßige, zwecklose Umherziehen, ohne die Mittel zum Lebensunterhalt zu besitzen und ohne eine Gelegenheit zum rechtmäßigen Erwerb derselben aufzusuchen“ – nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch (§ 361, Nr. 3, 362) mit Haft bis zu sechs Jahren bestraft. Ab 1974 ist die Landstreicherei nicht mehr strafbar.
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Landstreicherei, Pitaval, Trickbetrug