21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Empfindlichkeiten

von Detlef D. Pries

Eines Tages reichte es Eckart Spoo (1936–2016), dem verdienten Gründer und Redakteur der Zeitschrift Ossietzky (seine weiteren Verdienste müssen hier nicht erwähnt werden). Er setzte einen Beitrag unter dem Titel „Empfindlichkeiten eines Redakteurs“ in sein Blättchen. Vielleicht hatte er auch Erwin Strittmatters „Laden“-Helden Matt Esau im Sinn, der wie sein Schöpfer „empfindlich uff die Wörter“ war. Spoo war es jedenfalls nicht minder. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte sei er immer empfindlicher gegen mancherlei Sprachgewohnheiten geworden, bekannte er und spießte abgegriffene Sprachbilder, platzraubende Füllwörter und Fehlbildungen auf.
Hochpolitisches war darunter. Spoo berief sich zum Beispiel auf Carl von Ossietzky, der die Nazis von Anfang an intensiv beobachtet und sie Faschisten genannt habe. Heute dagegen seien „Verfassungsschutzämter, Schulbuchverlage und Chefredakteure offenbar entschlossen, die faschistische Sprachregelung durchzusetzen, um den Faschismus zu verharmlosen und neue sozialistische Initiativen zu diskreditieren“. Dagegen, bekannte der Ossietzky-Macher, sei er allergisch. Deswegen sortiere er Vokabeln und wechsele sie aus.
Ebenso empfindlich reagierte er auf schlichte Sprachschluderei und -aufschneiderei. Das „zeigefingernde“ dieser/diese/dieses etwa entferne er an manchen Tagen Dutzende Male, denn „das schlichte der/die/das genügt fast immer“. Manchmal täte es auch er/sie/es, wäre zu ergänzen. Beispiel: „Es geht darum, die Schulden auf null herunterzufahren, indem der Staat diese übernimmt.“
Ähnlich hatte einst Gustav Wustmann (1844–1910) in seiner „Kleinen deutschen Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen“ unter dem Titel „Allerhand Sprachdummheiten“ die Verwendung des langweiligen Relativpronomens welcher, welche, welches angeprangert, das er („welches er“) unerträglich „schulknabenhaft“ fand und ebenfalls durch der/die/das ersetzt sehen wollte. „Man benutze in Gottes Namen welcher im Unterricht ein paar Wochen lang als Verständniskrücke; aber sobald der Junge den Begriff des Relativs gefaßt hat, müßte die Krücke unbedingt weggeworfen, und er wieder auf seine eigenen Beine gestellt werden.“ Denn der lebendigen Sprache sei dieses Pronomen fremd, es gehöre zur „breiten, schleppenden Ausdrucksweise“ der Papiersprache. „Niemand spricht welcher, es wird immer nur geschrieben!“ Tatsächlich schien welcher/welche/welches eine Zeitlang verpönt zu sein, doch seit Jahren wuchert es wieder, und das selbst in manches Mannes Rede.
Spricht das für die Vergeblichkeit aller Sprachkritik? Schon Arthur Schopenhauer (1788–1860) giftete gegen „Sprachverhunzer“ und „unwissende Tintenkleckser“, die etwa „das Leben von Leibniz“ und „der Tod von Andreas Hofer“ statt Leibnizens Leben und Hofers Tod schrieben. „Der Ablativ mit von ist förmlich zum Synonym des Genitivs geworden … Allmählich wird er ganz an die Stelle des Genitivs treten.“ 200 Jahre später klagte Bastian Sick in mehreren Bänden: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“. Er schrieb sich damit sogar in die Bestsellerlisten, doch geändert hat er an der Sprachpraxis so wenig wie einst Schopenhauer. Wer traut sich heute noch, einen Namen in den Genitiv zu setzen, und wenn es denn doch unvermeidlich scheint, muss er unbedingt mit Deppen-Apostroph versehen werden, wie „Evi’s Würstchenbude“. Neulich warb ein Autohandelsfirma in einer – nun ja – Zeitung sogar als „Berlin’s Outletcenter für Jahres- und Gebrauchtwagen“.
Seit Jahren ein Ärgernis ist mir auch das offenbar unvermeidliche von daher – süddeutsch von dem her. Daher bedeutet „von dort“, von daher ist also „doppelt gemoppelt“, und das auch, wenn es in der Bedeutung von deshalb, aus diesem Grunde benutzt wird. Lange durfte man darauf warten, dass ähnlich unsinnig „nach dorthin“, „von woher“ und „nach wohin“ auftauchen. Es ist geschehen! Wo? Ausgerechnet in Spoos Ossietzky. („Die Schiffsreise nach dorthin …“) Der verstorbene Redakteur würde sich wohl im Grabe umdrehen, allerdings gehörte auch das zu den abgegriffenen Sprachbildern, auf die er sauer reagierte.
Leiden bereiten dem empfindlichen Redakteur Autoren, die ihren Text mit allerlei Füllwörtern aufblähen, aber im Begleitschreiben um Verzeihung dafür bitten, dass sie das Zeichenlimit nicht eingehalten haben. Da sind zum Beispiel die „Ehernen“, will sagen: die zahllosen Liebhaber des modischen Füllworts eher, die beispielsweise meinen, etwas als „eher unwahrscheinlich“ kennzeichnen zu müssen, was sie selbst für ausgeschlossen halten, ohne es so klar sagen zu wollen. Es könnte immerhin sein, dass doch … Eben das aber drückt das Wort unwahrscheinlich schon aus. „In den nächsten Tagen schneit es eher weniger“, verspricht der Wettermann im Fernsehen. Wieso „eher“? Eher wollte er doch sagen, dass es weniger schneit. Ein „eher schwieriges Thema“, ein „eher ungutes Gefühl“, ein Mensch von „eher kleiner Statur“, ein „eher mickriger Palast“, eine Erzählung, die „eher auf schwachen Füßen steht“, ein Vorschlag, den man „eher skeptisch“ beurteilt, ein Programm, das „eher kritisch zu sehen“ sei, eine Zeitung, die „eher selten links einsortiert wird“ … (Wurde die FAZ schon jemals links einsortiert?) In allen Fällen käme man bestens auch ohne eher aus. Der Urheber des „eher kritisch“ bewerteten Vorschlags weiß ohnehin, dass der Urteilende die Idee ablehnt und grämt sich ob des eher nicht weniger. Freilich meint mancher, er könne mit dem eher leichte Ironie in seinen Text einbringen, aber die eher-Inflation bläst jeden Hauch von Originalität aus dem Text, und das unschuldige Wörtchen wird zum Phänomen der Blähsprache. „Luftpumpendeutsch“ nannte Wiglaf Droste derlei Sprachgewohnheiten.
Es gibt noch etliche Füll- und Blähwörter, die umstandslos der Streichung zum Opfer fallen können: Das berüchtigte im Vorfeld, das niemand zu lokalisieren weiß, es sei denn, das Vorfeldpersonal des Flughafens XY streikte wieder einmal. Oder das nicht minder missbrauchte vor Ort. „Überall ist Bergmannsland“, spottete Herrmann Kant einst in einem Leserbrief ans Neue Deutschland über den häufigen Gebrauch. Dabei weiß jeder, der tatsächlich schon einmal vor Ort war, also dort, wo Kohle oder Erz abgebaut werden, dass man vor lauter Staub und Dreck meist die Hand vor Augen nicht sieht. Von Augenzeugenschaft kann also kaum die Rede sein.
Kant übrigens wollte auch nur einen einzigen Satz akzeptieren, der zweimal das Wörtchen dass enthält: „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“
Der Stern interviewte jüngst UNO-Generalsekretär Antònio Guterres. Der sprach angeblich von einem „vollkommen unkontrollierten“ Flüchtlingsstrom, und: „Es wurde vollkommen irrational“. Wie denn nun? Vollkommen oder irrational? Der sprachempfindliche Hansgeorg Stengel (1922–2003) wusste: „Vollkommen falsch ist nicht korrekt.“ Und doch scheinen wir heute zumindest im Sprachlichen in einer Welt der Vollkommenheit zu leben, selbst wenn das glatte Gegenteil befürchtet werden muss, wie im Falle einer „vollkommen zerstörten“ Stadt. Einen solchen Begriff von Vollkommenheit wolle er sich nicht zu eigen machen, schrieb Spoo seinerzeit. Freilich kann der Portugiese Guterres nichts für die Stern-Übersetzung.
Genug gemeckert. Schließlich muss wenigstens einer das Zeichenlimit einhalten. Ob Schopenhauer, Wustmann, Stengel, Sick oder Spoo – niemand hat „Sprachverhunzern“ bisher das Handwerk legen können. Was nicht heißt, dass man jede Sprachkritik unterlassen sollte. Ein Trost bleibt dem empfindlichen Redakteur: Mit „Strg + x“ lässt sich Sprachmüll heutzutage flugs entsorgen. Nur leider: Nicht nur mit „Strg + v“ ist der Unsinn ebenso schnell wieder da.