von Edgar Benkwitz
Es mutet fast kurios an, dass eine Religionsgemeinschaft mit nahezu 200 Millionen Angehörigen eine Minderheit ist. Doch in Indien mit seiner Vielfalt an Ethnien, Kasten, Religionen und Sprachen, wo sich vieles um Mehrheiten, Minderheiten und Quoten dreht, verwundert das nicht. Dominierende Mehrheit auf dem Gebiet der Religion ist die hinduistische Gemeinschaft mit fast einer Milliarde Anhängern – demzufolge werden von der Verfassung Muslime, Sikhs, Christen, Buddhisten, Parsen und Jains als Minderheiten betrachtet.
Im Alltag spielt das allerdings kaum eine Rolle, selbst die zuständige Ministerin für Minderheitsfragen in der hindunationalistischen Regierung konnte so wider besseres Wissen behaupten: „Muslime sind keine Minderheit. Die Parsen sind eine. Um die müssen wir uns kümmern, damit ihre Anzahl nicht weiter fällt.“ In der Tat sind die Parsen, deren prominenteste Vertreter die Unternehmerfamilie der Tatas sowie der Dirigent Zubin Mehta sind, eine schwindende Religionsgemeinschaft mit weniger als 100.000 Gläubigen.
Darüber hinaus ist die Antwort der Ministerin zutiefst politisch motiviert. Ihre Dienststelle wurde überhaupt erst 2006 geschaffen, und zwar in Folge eines Regierungsberichts über die erschreckenden Lebensbedingungen der muslimischen Gemeinschaft. Eine Kommission, eingesetzt durch die damalige Regierung der Kongresspartei, hatte 2005/06 nahezu alle Lebensbereiche der Muslime minutiös untersucht. Und sie registrierte, dass diese Gemeinschaft Benachteiligungen und Diskriminierung in Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge, öffentlicher Infrastruktur und Zugang zu Finanzdienstleistungen ausgesetzt ist, was zu einer größeren Armut im Vergleich zu anderen Gemeinschaften geführt hat. „Muslime sind hinsichtlich der sozialökonomischen Bedingungen in einer schlimmeren Lage als jede andere Gemeinschaft, sogar als die der Dalits“ (Kastenlose), schlussfolgerte der Bericht.
Diese Feststellungen riefen nicht nur in Indien außerordentliche Aufmerksamkeit hervor. Die Tatsache, dass über fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes eine große Gemeinschaft sich so vernachlässigt darstellen musste, wirft Fragen auf. Eine große Rolle spielt dabei die Teilung des alten indischen Subkontinents 1947 mit seinen Folgen. Der Bevölkerungsanteil der Muslime betrug damals nur noch knapp 10 Prozent (vormals 34 Prozent). Dieser war aber durch den Weggang seiner Elite – Politiker, Geschäftsleute, Militärs, Kulturschaffende, Geistliche – nach Pakistan stark geschwächt. Zurück blieben die Ärmsten und Schwächsten, meist in ländlichen Gebieten verwurzelt, sowie eine dünne Oberschicht. So waren die Startbedingungen denkbar schlecht. Muslime wurden zudem oft als Bürger zweiter Klasse behandelt, mussten mit Vorbehalten und Misstrauen leben – einer der Gründe für das Bestreben, sich abzuschotten.
Diese Vorbehalte erhalten durch die Stärkung der hindunationalistischen Bewegung in Indien Auftrieb. Selbst im Parlament sind sie zu hören, wie etwa vom Abgeordneten V. Katiyar, der unwidersprochen am 7. Februar forderte: „Muslime sollten nicht in diesem Land leben […], sie sollten nach Pakistan oder Bangladesch gehen, was haben sie hier zu suchen?“ Gerichtet war diese Aufforderung an den muslimischen Abgeordneten A. Owaisi, der geklagt hatte, dass er und seine Glaubensbrüder als „Pakistani“ beschimpft werden.
Auch früher war schon zu hören, dass Muslime „Agenten Pakistans“ oder dessen „Fünfte Kolonne“ seien. Der indische Staat nährt diese Vorbehalte, beispielsweise durch die Besetzung des öffentlichen Dienstes. Der Anteil der Muslime beträgt hier weniger als fünf Prozent. Das umfasst die Organe der Zentralregierung ebenso wie die der Landesregierungen, wo der Anteil noch geringer ausfällt. Die Streitkräfte beschäftigen dem britischen Historiker Perry Anderson zufolge nur zu zwei Prozent Muslime, für den umfangreichen Sicherheitsapparat gibt es bezeichnenderweise überhaupt keine Angaben.
Nun ist dem Sicherheitsbedürfnis des indischen Staates Verständnis entgegen zu bringen, denn Indien und das muslimische Pakistan stehen sich seit der Teilung feindlich gegenüber, drei Kriege wurden geführt. Auch heute gibt es fast täglich Zwischenfälle an der Grenze und eine nachweisliche Infiltration von Terroristen aus Pakistan in das indische Kaschmir und andere Teile des Landes. Doch das rechtfertigt nicht das offene oder verdeckte Misstrauen gegenüber einer ganzen Religionsgemeinschaft.
An diesem Zustand ändert auch die Tatsache nichts, dass einige Bürger muslimischen Glaubens in Politik und öffentlichem Leben herausragende Positionen einnehmen. So gab es bisher drei Staatsoberhäupter aus der muslimischen Gemeinschaft, es gab und gibt Minister, Diplomaten sowie berühmte Schauspieler, Wissenschaftler, Journalisten und Sportler. Falls politisch gebunden, gehören sie meist der Kongresspartei an, die für sich in Anspruch nimmt, die Interessen der Muslime zu vertreten. Landesweite Parteien muslimischen Charakters gibt es nicht, bestehende kleinere haben nur regionalen Einfluss. Im Parlament mit seinen 543 Sitzen sind nur 22 muslimische Abgeordnete vertreten. Im Kabinett von Premierminister Modi gibt es keinen Minister dieses Glaubens, lediglich im erweiterten Ministerrat sind von 46 Mitgliedern zwei Muslime. Also eine vielsagende Unterrepräsentation in diesen, die indische Politik prägenden Entscheidungsgremien.
Die Fakten legen nahe, dass es an wirklich ernst zu nehmenden Bestrebungen des indischen Staates fehlt, diesen Zustand zu ändern. Hinzu kommt, dass Empfehlungen der Regierungskommission von 2006 nur schleppend befolgt wurden, bereitgestellte Mittel versickerten in der Bürokratie oder wurden gar nicht erst abgerufen. Ein Vergleich sozialökonomischer Daten im Jahre 2011 mit denen von 2006 zeigte, dass sich fast nichts geändert hatte, der Abstand zu anderen benachteiligten Gruppierungen war sogar größer geworden.
Die Frage drängt sich auf, was die Muslimgemeinschaft tut, um diese Zustände zu ändern. Als ihre unmittelbaren Interessenvertreter haben sich eine Reihe religiös geprägter Gremien gebildet, deren größtes das seit 1973 bestehende All-India Muslim Personal Law Board ist. Dieses selbsternannte Organ, aus Geistlichen und Islamexperten bestehend, sieht sich als Hüter der Scharia, des muslimischen Familienrechts, der Kultur und Sprache/Urdu). Die Gemeinde soll so eine einheitliche, abgegrenzte Muslimidentität bewahren und vertiefen, schreibt der Menschenrechtler Tanweer Alam. Hinzu kommen eine Pflege der Opferrolle und oft eine räumliche Abgrenzung(Ghettoisierung). Das alles bedeutet aber Abschottung, Selbstisolierung. Um ihre von der Verfassung garantierten Rechte zu realisieren, müssen die muslimischen Bürger gegen ihre klerikale Führung vor weltliche Gerichte ziehen. Das zeigte sehr deutlich ein kürzliches Urteil des Obersten Gerichts, das die Scharia-Praxis der Ehescheidung (triple talaq) für nicht verfassungsgemäß erklärte und damit den Klägerinnen – muslimischen Frauen – Recht gab.
Es ist ungewiss, was die Zukunft dieser großen Gemeinschaft bringt. Fest steht nur, dass sie zahlenmäßig weiter wachsen wird. Damit werden ihre Probleme nicht verkleinert, zumal ihre rückwärtsgewandte klerikale Führung sich weiterhin bemüht, die die Selbstisolierung der Muslime Indiens zu vertiefen. Abschottung bedeutet Konservierung des Status quo mit Armut in all ihren Erscheinungsformen.
Stimmen wie die des erwähnten Abgeordneten Owaisi, der betont, dass die Muslime das Land nicht verlassen werden, „komme, was da wolle“, und „Wir sind nicht nur durch unsere Geburt Inder, sondern auch durch unsere Entscheidung“, sind zwar ehrenwert, lösen aber keine Probleme.
Die Muslime sind nicht die einzige unterpriviligierte Gemeinschaft in Indien. Sie teilen diesen Status mit vielen Millionen Angehörigen niedriger Kasten und Kastenloser (Dalits) sowie den Stammesangehörigen, denen die gleichen verfassungsmäßig garantierte Rechte vorenthalten werden.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Hinduismus, Indien, Muslime, Pakistan