Der verdächtige „Kunstfund Gurlitt“

von Manfred Orlick

2012 wurde die überraschend aufgetauchte Kunstsammlung Gurlitt als Raubkunst beschlagnahmt. Die Fachleute wie auch die breite Öffentlichkeit waren gleichermaßen elektrisiert: Kunstwerke der Extraklasse – von Dürer, Matisse, Picasso, Rodin, Monet, Kirchner, Beckmann, Nolde oder Munch – als vermeintlicher „Nazischatz“ inmitten des Münchener Szeneviertels Schwabing. Dazu der Erbe Cornelius Gurlitt selbst – der über achtzigjährige, greise, äußerst zurückgezogen lebende Sohn Hildebrand Gurlitts, des „Kunsthändler Hitlers“. Doch handelte es sich wirklich um Raubkunst (von NS-Verfolgten) aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft?
Der „Fall Gurlitt“ wurde schnell zu einem politischen Fall. Mit rund drei Millionen Euro unterstützte der Staat die Erforschung der Bilder. Doch nach vier Jahren Forschung konnten nur sechs Fälle von Raubkunst unter den beschlagnahmten rund 1500 Objekten nachgewiesen werden. In Deutschlands staatlichen Museen dürfte der Raubkunstanteil weitaus höher liegen. Der Fernseh- und Buchautor Maurice Philip Remy spricht daher in seinem Buch „Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal“ von einem Justizskandal und schweren gesetzgeberischen Versäumnissen im Umgang mit Raubkunst in Deutschland. Der 2014 im Alter von 81 Jahren verstorbene Cornelius Gurlitt vermachte testamentarisch seine umstrittene Sammlung dem Kunstmuseum Bern, das nach einem langen Rechtsstreit das Erbe antreten konnte.
Nun sind Werke der Sammlung Gurlitt, die immer noch unter dem Raubkunstverdacht stehen, erstmals öffentlich zu sehen – in einer Doppelausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt: der NS-Kunstraub und die Folgen“ (Bundeskunsthalle Bonn) und „Bestandsaufnahme Gurlitt. ,Entartete Kunst‘ – Beschlagnahmt und verkauft“ (Kunstmuseum Bern) bis 11. beziehungsweise 4. März 2018. Erstmals werden die Werke, die der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt in den 30er- und 40er-Jahren erworben hatte, im historischen Kontext gezeigt. Um das Dilemma der „Raubkunst“ zu umschiffen, erfanden die Ausstellungsmacher den Terminus „NS-verfolgungsbedingt entzogene ,Raubkunst‘, deren Herkunft noch nicht abschließend geklärt werden konnte“. Gleichzeitig sucht man aber auch die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung.
Im Hirmer Verlag ist der umfangreiche Katalog zu dieser emotionalen Ausstellung erschienen. Fachleute der Materie waren bereit, ihre teilweise noch unveröffentlichten Forschungsergebnisse zu dem „offenbar explosiven Thema“ zu publizieren. Der erste Teil der „Bestandsaufnahme Gurlitt“ befasst sich mit der Person Hildebrand Gurlitt sowie seinen beruflichen Aktivitäten vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Im Fokus des zweiten Teils steht der „Kunstfund Gurlitt“ selbst, und zwar im Licht der aktuellen Forschungsergebnisse. Das Herzstück dieses Teils bilden elf Fallbeispiele, in denen die komplexen Provenienzen erläutert und diskutiert werden – beispielsweise anhand einer Bleistift- und Gouache-Zeichnung „Landschaft mit Segelbooten“ (1913) von August Macke oder des Gemäldes „Bildnis Maschka Mueller“ (1924/25) von Otto Mueller. Mit diesen Fallbeispielen werden die Handelstätigkeiten Gurlitts wie auch die Praxis des nationalistischen Kunstraubs offengelegt.
Der Bildteil umfasst rund 300 Werke aus dem „Kunsterbe Gurlitt“. Er bietet einen repräsentativen Überblick über die Kunstwerke unterschiedlicher Epochen und Stile. Neben den rein technischen Hintergrundinformationen gibt es zu jedem Werk auch ausführliche Provenienzangaben (Stichtag 8. September 2017). Der umfangreiche Anhang bietet ebenfalls eine Fülle von Hintergrundinformationen wie eine illustrierte Biografie Hildebrand Gurlitts, ein Glossar oder Kurzbiografien der beteiligten Autorinnen und Autoren. Selbst wer keine Gelegenheit zum Museumsbesuch in Bonn oder Bern hat, gewinnt mit diesem Begleitkatalog einen Einblick in die kunstgeschichtliche Vielfalt und die wechselvolle Geschichte des „Kunstfundes Gurlitt“.

„Bestandsaufnahme Gurlitt – Der NS-Kunstraub und die Folgen“, Hirmer Verlag München 2017, 344 Seiten, 29,90 Euro.