von Uwe Feilbach
Die Gründung des deutschen Kaiserreiches unter preußischer Dominanz im Jahre1871 hat zwar die deutsche Einheit und einen Verfassungsstaat hervorgebracht, die hochgesteckten Ziele der Revolution von1848 wurden aber nur sehr unvollkommen verwirklicht. Zu groß waren immer noch die Machtfülle des Kanzlers Bismarck und der Einfluss des von ihm gestützten Adels und der Junker. So war der neu gegründete deutsche Einheitsstaat eher ein preußischer Obrigkeitsstaat als ein demokratisches Staatswesen auf der Grundlage echter Volkssouveränität. Hierdurch wurde die Position der bürgerlich-liberalen Kräfte, die danach strebten, den neuen Staat den durch die Modernisierung bedingten veränderten Bedingungen anzupassen, entscheidend geschwächt.
Da die Verfassung des Deutschen Reiches jetzt allen Bürgern, gleich welcher Religion die gleichen staatsbürgerlichen Rechte garantierte, strebten nun auch die seit Jahrhunderten benachteiligten und gesellschaftlich isolierten deutschen Juden nach Entfaltung ihrer Fähigkeiten in den verschiedensten Tätigkeitsfeldern in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Verständlich auch, dass Juden bezüglich ihrer politischen Orientierung sich vorwiegend den liberalen, nach positiven gesellschaftlichen Veränderung strebenden Parteien und Organisationen zuwandten und auch in der liberalen Presse aktiv waren, was ihnen von den Deutschnationalen und Konservativen sehr übel genommen wurde.
Als „Berliner Antisemitismusstreit“ bezeichnete man eine öffentliche Auseinandersetzung, die in den Jahren von 1879 bis 1881 im deutschen Kaiserreich über die sogenannte „Judenfrage“ geführt wurde. Es begann mit einer kontroversen Debatte im Reichstag über die Wiedereinführung oder Nichteinführung der Schutzzölle auf Getreide und Eisen.
Schwerindustrie und Großgrundbesitzer, vertreten durch die konservativen Parteien forderten die Einführung von Schutzzöllen, während die Liberalen und mit ihnen Bismarck am Freihandel festhielten. Bismarcks jüdischer Finanzberater Gerson von Bleichröder hatte gemeinsam mit den jüdischen Führern der Liberalen Eduard Lasker und Ludwig Bamberger Bismarcks Freihandelspolitik unterstützt. In den Jahren 1878/79 änderte Bismarck seinen Kurs, stellte sich auf die Seite sich der konservativen Parteien und des Zentrums und führte wieder Zölle für Getreide und Eisen ein. So bildeten sich innerhalb der Liberalen Partei zwei Flügel heraus, der liberale, der von Bamberger und Lasker unterstützt wurde, und der konservative, rechte Flügel.
Diese eigentlich ganz normale parlamentarische Auseinandersetzung über die Gestaltung der Handels-und Wirtschaftspolitik eines Landes wurde nun von nationalkonservativen und antisemitischen Kreisen in absurder Weise zu einem Rassen- und Kulturkampf zwischen Deutschtum beziehungsweise Germanentum und Judentum umgedeutet, indem diese den Juden die Schuld an allen krisenhaften Verwerfungen in Industrie und Landwirtschaft während der Gründerjahre gaben.
Die entscheidende Rolle bei der Auslösung des Antisemitismusstreits spielte der Historiker Heinrich von Treitschke. Treitschke vertrat die Auffassung, dass die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden keineswegs eine Selbstverständlichkeit sei, sondern, dass diese den Deutschen dafür dankbar sein und sich diese Rechte durch entsprechendes Wohlverhalten erst verdienen müssten. Treitschke sah in der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden also nicht ein verfassungsmäßiges Grundrecht, sondern vielmehr ein Gnadengeschenk der monarchischen Obrigkeit. Eine Gefahr sah Treitschke vor allem auch in den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa. In das gleiche Horn blies der Gründer der Christlich-Sozialen Partei und Hofprediger Adolf Stöcker, der in einer Rede mit dem Titel „Unsere Forderungen an das Judentum“ den Juden Anmaßung und Unbescheidenheit vorwarf.
Die antisemitischen Äußerungen des angesehenen deutschen Historikers lösten empörte Reaktionen seitens jüdischer und nichtjüdischer liberaler Intellektueller vor allem in der Presse und in anderen Printmedien aus, aber auch antisemitische Stimmen meldeten sich zum Wort, um für Treitschke Partei zu ergreifen, und das vor allem in konservativen Presseorganen wie Germania, Der Reichsbote und Deutsche Wacht.
Zu einem Historikerstreit der besonderen Art, bei dem es diesmal nicht um Geschichte, sondern um die unmittelbare Gegenwart ging, kam es im Rahmen dieser Auseinandersetzungen, als der gleichfalls hoch angesehene liberale Historiker Theodor Mommsen ein Jahr später in den Streit eingriff und für die Gleichberechtigung der Juden und gegen die antisemitischen Thesen Treitschkes Partei ergriff.
Im August 1880 gaben die Lehrer Bernhard Förster und Ernst Henrici sowie der Reichstagsabgeordnete Liebermann von Sonnenberg eine „Antisemitenpetition“ heraus, in welcher unter anderem ein Verbot der Einwanderung ausländischer Juden, die Ausweisung aller polnischen Juden aus Deutschland sowie tiefgreifende Einschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte der deutschen Juden gefordert wurden. Als antisemitische „Studentenpetition“ wurde diese Petition in Form von Flugblättern an den deutschen Universitäten verteilt. Als Reaktion darauf veröffentlichten 75 angesehene Repräsentanten des öffentlichen Lebens in Berlin, darunter die Professoren Johann Gustav Droysen, Rudolf von Gneist, der berühmte Arzt Rudolf Virchow und Theodor Mommsen eine „Notablen-Erklärung gegen den Antisemitismus“ in der Berliner Nationalzeitung, worin die antisemitische Hetzpropaganda scharf verurteilt wird, durch welche „der Rassenhass und der Fanatismus des Mittelalters wieder ins Leben gerufen“ werde. Gefordert wird dagegen: „Achtung jedes Bekenntnisses, gleiches Recht, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden“.
Im Laufe der Zeit blieb der Antisemitismusstreit nicht mehr auf den intellektuellen Diskurs in der Presse und in Streitschriften beschränkt, sondern ergriff eine immer breitere Öffentlichkeit. Im Dezember 1880 fand in den Reichshallen in Berlin eine antisemitische Veranstaltung statt; im Januar 1881 trafen sich am gleichen Ort Gegner des Antisemitismus. Redner auf dieser Versammlung waren unter anderem Rudolf Virchow und andere Vertreter der Liberalen und der Fortschrittspartei. Der Judenhass fand aber nicht überall nur verbalen Ausdruck. In den Ostprovinzen des Reiches wie Pommern und Ostpreußen kam es verschiedentlich zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden und in Neustettin brannte sogar eine Synagoge, wofür die Justiz bezeichnenderweise Juden verantwortlich machte.
Seitens der kaiserlichen deutschen Regierung wurde zwar erklärt, dass nicht beabsichtigt sei, die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden wieder rückgängig zu machen, eine klare Absage an den Antisemitismus wurde aber nicht verlautbart, stattdessen wurden im Jahre 1884 die Restriktionen gegen jüdische Einwanderer aus dem Ausland verschärft. Trotz gesetzlich garantierter Gleichberechtigung war es für Juden im deutschen Kaiserreich immer noch äußerst schwierig, Zugang zum höheren Beamtentum oder zur Offizierslaufbahn zu erhalten.
Auch in der Weimarer Republik hatten die nationalkonservativen und antisemitischen Kräfte noch eine starke Position inne, und leider waren jetzt die Gegner des Antisemitismus bei weitem nicht mehr so stark und entschlossen, wie während der Gründerjahre. Dies alles bereitete den Nationalsozialisten den Boden für die furchtbaren Verbrechen an den europäischen Juden, die während ihrer Herrschaft verübt wurden. Der von Treitschke geprägte Ausspruch „Die Juden sind unser Unglück“ wurde zur Titelzeile des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer.
Schlagwörter: Antisemitismus, Heinrich von Treitschke, Juden, Kaiserreich, Rudolf Virchow, Uwe Feilbach