20. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2017

Der alte Mann und die junge Inderin

von Detlef D. Pries

War es helle Aufregung oder war es betretenes Schweigen, das im Auslandsressort des Zentralorgans herrschte, als Hilmar König – „unser Hilmar“ – 1986 nicht von einer Dienstreise aus Afrika zurückkehrte? Nicht in die Redaktion jedenfalls und nicht nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Die für solche Vorgänge berufenen Organe bemühten sich zwar, den Abtrünnigen doch noch zur Heimkehr zu bewegen, allein sie mühten sich vergebens. Eigenartig nur, dass – anders als in ähnlichen Fällen – so gar nichts von der „Republikflucht“ des ND-Redakteurs in den Medien der anderen Seite zu lesen und zu hören war. Kein Interview und kein Enthüllungsartikel. Der Delinquent hatte zwar das Land, aber nicht die Seiten gewechselt. Sein Schritt hatte sehr persönliche Gründe. Freilich entging er deshalb nicht der formellen Verdammung durch die Verlassenen – wenngleich mancher insgeheim um Verständnis gerungen haben mag.
Dem Journalismus musste der ehemalige Südasien-Korrespondent allerdings im anderen Deutschland vorerst entsagen. Zeitweilig arbeitete er als Krankenpfleger. Bis er eines Tages – die Zeit des Neuen Deutschlands als Zentralorgan und die Republik, die König verlassen hatte, waren Geschichte – wieder in der ND-Redaktion auftauchte und als freischaffender Journalist fortan auch für sein ehemaliges Blatt tätig wurde.
Jetzt hat Hilmar König ein Buch geschrieben: „Apsara“, im Untertitel „Das Wolkenmädchen und der alte Mann“. Keine Autobiografie, sondern ein Roman, der jedoch ein Gutteil bewegter und bewegender Königscher Lebensgeschichte enthält und die Motive seines früheren Handelns verrät.
Die Titelgestalt „Apsara“ trägt ihren Namen nach den himmlischen Tänzerinnen, die der hinduistischen Mythologie zufolge die Aufgabe haben, Götter und Göttinnen zu unterhalten. Bekannt sind die Apsaras aus den großen indischen Epen „Mahabharata“ und „Ramayana“, zu Hunderten findet man sie dargestellt auch in Reliefs an den Bauten der kambodschanischen Tempelstadt Angkor. Königs Apsara aber ist eine lebendige junge Frau im heutigen Indien – eine Frau allerdings ohne Beine. Nach einer brutalen Vergewaltigung unter nicht restlos geklärten Umständen auf die Gleise einer Eisenbahn geraten, wird sie von einem Zug überrollt, überlebt jedoch wie durch ein Wunder. Der deutsche Journalist Atis liest davon, sucht nach dem Opfer, begegnet der jungen Frau – und ist von ihr fasziniert. König schildert das Auf und Ab in den Stimmungen, Launen und Empfindungen Apsaras wie auch die Höhen und Tiefen in den Beziehungen zwischen dem alten Mann Atis und dem Wolkenmädchen – bis zu einem glücklich-tragischen Ende. Auch darin hat er eigenes Erleben und alltägliche indische Realität eingefangen, deren exzellenter Kenner er dank langjähriger Aufenthalte in Indien ist.
Am bekanntesten wurde der Fall der 23-jährigen Jyoti Singh Pandey aus Delhi, die den Folgen ihrer grausamen Vergewaltigung durch sechs Männer im Dezember 2012 erlag. Ihr Tod hatte wochenlange Protestdemonstrationen in ihrer Heimat zur Folge und lenkte weltweite Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen in Indien.
König widmet sich indes nicht nur diesem Aspekt, er beschreibt indisches Leben in vielen Facetten: das unselige Kastenwesen, patriarchalische Strukturen, fesselnde Familienbeziehungen, kulturelle Bräuche, religiöse Rituale …
Den Journalisten in sich kann der Romanautor in Sprache und Stil bisweilen nicht verbergen. Berufsbedingt zu schnellem Formulieren gezwungen und daran gewöhnt, kann er Sprachformeln und -schablonen nicht immer vermeiden. Ungeachtet dessen ist Königs Buch jedem zu empfehlen, der – auch wenn er nicht in jedem Fall zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden vermag – neugierig auf das faszinierende Land Indien und darüber hinaus auf das ungewöhnliche Leben des H.K. ist.

Hilmar König: Apsara. Das Wolkenmädchen und der alte Mann. Edition Avra, Berlin 2017. 252 Seiten, 13,90 Euro.