von Uwe Feilbach
Wenn wir am 9. November an die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht des Jahres 1938 erinnern, dürfen wir auch die massiven Propagandaaktionen nicht außer Acht lassen, die die Nationalsozialisten unternommen haben, um den Boden für die Verbreitung des Judenhasses in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung zu bereiten. Eine wichtige Rolle dabei spielte das von der SA herausgegebene Hetzblatt Der Stürmer. Um die Massenwirksamkeit der in diesem Blatt verbreiteten antisemitischen Propaganda zu verstärken, wurde das Blatt in sogenannten Stürmerkästen öffentlich ausgehängt.
Aber bereits über 50 Jahre vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten, in den Gründerjahren des Deutschen Reiches, gab es in Deutschland eine antisemitische Bewegung, die lautstark an die Öffentlichkeit drängte und deren erklärtes Ziel darin bestand, den Juden die ihnen in der Verfassung des Deutschen Reiches garantierte staatsbürgerliche Gleichberechtigung abzusprechen, sie unter ein besonderes „Fremdenrecht“ zu stellen, sie möglichst überhaupt aus Deutschland zu vertreiben.
In den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts waren in Deutschland zahlreiche antisemitische Organisationen entstanden, die dieses Ziel verfolgten. Zu den bekanntesten Publikationen dieser Bewegung zählten der „Antisemiten-Katechismus“ und die Antisemitische Korrespondenz.
Hinter dem harmlos klingenden Titel Berliner Ostend-Zeitung verbarg sich ein antisemitisches Hetzblatt, das in mancher Hinsicht durchaus mit dem Stürmer zu vergleichen ist. Der Sprachgebrauch dieses Blattes, das in den Jahren 1880–1881 erschien und von Julius Ruppel herausgegeben wurde, unterschied sich nur in Nuancen vom Stürmer-Jargon.
Bevorzugte Zielscheibe der in dieser Zeitung verbreiteten Hasstiraden waren neben den in der Wirtschaft und im Finanzwesen tätigen Juden, denen man die alleinige Schuld an den Krisenerscheinungen der Gründerjahre zuwies, vor allem jüdische Reichstagsabgeordnete und Stadtverordnete der Nationalliberalen und der Fortschrittspartei sowie jüdische Vertreter der liberalen Presse, deren Auffassungen mit den eigenen national-konservativen und feudalistisch oder klerikal gefärbten Positionen nicht übereinstimmten. Aber auch nichtjüdische Personen des öffentlichen Lebens, die sich rückhaltlos für die Gleichberechtigung der Juden einsetzten und auch sonst wegen ihrer liberalen Einstellung den Machern des Blattes politisch suspekt waren, wurden pauschal als „Judengenossen“ beschimpft. So bezeichnete das Blatt die Fortschrittspartei als „verjudet“ und ihre Vertreter im Reichstag als „Knoblauch“- oder „Plattfußfraktion“. Verbunden war das mit dem Aufruf, Juden nicht zu wählen. Die traditionsreiche liberale Berliner Vossische Zeitung, deren Geschichte bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, wurde mit der diskriminierenden Bezeichnung „Tante Voss, das alte Judenschicksel“ belegt.
Der Antisemitismus des Blattes war aufs engste mit einer zutiefst reaktionären, antidemokratischen und erzkonservativen Haltung in allen politischen Fragen verbunden.
Wie später die Nationalsozialisten, so rief auch dieses Blatt zum Boykott jüdischer Geschäfte auf und veröffentlichte zu diesem Zweck Listen „christlicher Geschäfte“.
Unverkennbar ist die völkische Position dieser Zeitung. Die deutsche Identität wurde als „germanisch“ und christlich definiert, demgegenüber die Juden als nicht assimilierbare Fremdlinge und als „deutsch redende Orientalen“ bezeichnet wurden. Offen bekundete die Ostend-Zeitung ihr Verständnis und ihre Sympathie für die antijüdischen Pogrome im zaristischen Russland zu Beginn der 1880er Jahre ebenso wie für gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden, die sich zeitgleich in östlichen Reichsprovinzen wie Pommern und Westpreußen ereigneten. Nachdrücklich forderte die Zeitung die Zurückweisung jüdischer Flüchtlinge, die in größerer Zahl über die Grenze nach Deutschland kamen, um sich vor den Pogromen in ihrem Lande zu retten. Juden wurde auch die Beteiligung an der Ermordung des Zaren Peter II. Im Jahre 1881 angelastet. Warme Worte der Solidarität und Sympathie fand das Blatt für antisemitische Propagandisten in benachbarten europäischen Ländern wie etwa in Ungarn.
Steckbriefartig veröffentlichte die Ostend-Zeitung Listen jüdischer Dozenten und Professoren an der Berliner Universität und verleumdete gleichzeitig nichtjüdische Gelehrte und Geistliche, die konsequent für die Judenemanzipation eintraten. Zu nennen sind der berühmte Arzt Rudolf Virchow, der Mitbegründer und von 1880 bis 1891 Reichstagsabgeordneter der Deutschen Fortschrittspartei war, und der Historiker Theodor Mommsen. Eine weitere Forderung dieser Zeitung bestand darin, jüdische Kinder von christlichen Schulen zu verweisen.
Ihren Gipfel fanden die antisemitischen Schmähungen in dem Vergleich der Juden mit Krebsen und Ratten und schließlich in der Forderung, die „Judenfrage“ notfalls mit „Blut und Eisen“ zu lösen.
Neben diesen propagandistischen Schwerpunkten veröffentlichte die Ostend-Zeitung eine Fülle antisemitischer Karikaturen und Spottgedichte und betrieb umfangreiche Werbung für antisemitische Versammlungen und Treffen, auf denen auch der Herausgeber der Zeitung Julius Ruppel und der Lehrer Ernst Henrici als Redner auftraten. Beliebte Versammlungsorte der Antisemiten in Berlin waren unter anderem die Bock-Brauerei und die Reichshallen.
Charakteristisch für die Reden und Schriften Henricis und anderer antisemitischer Propagandisten war eine primitive Deutschtümelei, verbunden mit einem kitschig-romantischem Germanenkult. Zu den „deutschen Tugenden“, die bereits Tacitus den alten Germanen zugeschrieben haben soll, zählte Henrici „Treue in der Ehe“, „Ehrenhaftigkeit“, „unverwüstliche Kriegslust“, ja sogar Trinkfestigkeit. Demgegenüber wurden „dem Juden“ als einem „vaterlandslosen Goldnomaden“ alle denkbaren schlechten Eigenschaften zugeschrieben. „Vaterlandslose Gesellen“ nannte man bekanntlich damals in diesen Kreisen auch die Sozialdemokraten und andere Aktivisten der Arbeiterbewegung.
Ihr Ziel, die völlige Entrechtung der Juden in Deutschland, haben die Antisemiten damals nicht erreichen können. Trotz aller Demokratiedefizite und trotz eines sehr starken Einflusses restaurativer, reaktionärer und antisemitischer Kräfte besonders im Militär und im Beamtentum war das Kaiserreich immer noch ein stabiler Verfassungsstaat mit einem gewählten Parlament und einer Vielfalt von Parteien. In Gestalt der Christlichsozialen Partei und der Deutschen Reformpartei zogen zwar gegen Ende der 1880er Jahre zwei definitiv antisemitische Parteien in den Reichstag ein, die Anzahl ihrer Sitze blieb aber gering. Auch formierte sich sehr bald eine entschlossene Bewegung gegen den Antisemitismus, die namentlich von Intellektuellen und einigen Vertretern christlicher Kirchen getragen wurde. Auch Kronprinz Friedrich, der spätere Kaiser Friedrich III., der wegen seines frühen Todes nur 99 Tage regierte, nannte den Antisemitismus „eine Schmach für unserer Zeit“.
Damals, in den Gründerjahren des deutschen Kaiserreiches, wurde die ideologische Saat ausgebracht, die über ein halbes Jahrhundert später mit dem Völkermord an den europäischen Juden so fürchterlich aufgehen sollte.
Schlagwörter: Antisemitismus, Deutsches Reich, Ernst Henrici, Juden, Julius Ruppel, Uwe Feilbach