20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Postbotensyndrom

von Bernhard Romeike

Nachdem die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 vorliegen und die AfD mit 12,6 Prozent drittstärkste Partei wurde, scheint bei den anderen Parteien ein Syndrom ausgebrochen zu sein, nach dem Muster: Der Postbote kommt und holt ein Paket ab, das von einem Versandhaus geschickt wurde und zurück soll, weil die Kleidungsstücke nicht passen oder die Farben nicht die gewünschten sind. Die Parteienvertreter reden unisono, sie wollten die Wähler „abholen, wo sie sind“ und „mitnehmen“. Wo sind sie denn? Wo sollen sie hin? Nennen wir es das Postbotensyndrom.
Die Bundesregierung hatte bei der Entscheidung 2015, für Scharen von Flüchtlingen die Grenzen zu öffnen, weder das Parlament noch die Wahlbevölkerung gefragt. Danach sollte diese Politik „erklärt“ werden. Nur waren Teile der Bevölkerung offenbar zu dumm oder zu verstockt, dem etwas Gutes abzugewinnen. Robert Habeck, für die Grünen derzeit Stellvertretender Ministerpräsident Schleswig-Holsteins in einer „Jamaika-Koalition“, sagte am 1. Oktober 2017 dazu in der Gesprächsrunde bei Anne Will in der ARD, das Problem sei nicht die Grenzöffnung gewesen, nicht Merkels Satz „Wir schaffen das“, sondern das „Wir“. Es wurde nie klar, wer das „Wir“ sein sollte und was dieses schaffen sollte.
Das Thema der Sendung war: „Nach der Protestwahl – wäre Jamaika die richtige Antwort?“ Schon die Etikettierung als „Protestwahl“ ist ein Problem. Bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 erhielt die Kommunistische Partei Deutschlands nur noch 2,2 Prozent und hatte gegenüber 1949 3,5 Prozent verloren. War das nur Ergebnis der antikommunistischen Hetzkampagne Konrad Adenauers oder auch eine „Protestwahl“ – damals nannte man das noch nicht so – in Westdeutschland gegen die Niederschlagung des 17. Juni im Osten? Die „Willy-Wahl“ 1972, bei der die SPD mit Willy Brandt an der Spitze erstmals stärkste Partei im Bundestag wurde, war das „nur“ eine Bestätigung seiner Ostpolitik oder auch Protest gegen die Politik der Christdemokraten, das Wahlergebnis von 1969 durch den Kauf oder das politische Abwerben von Abgeordneten aus SPD und FDP zu „korrigieren“? War die Wahl der SPD-Grüne-Mehrheit 1998 eine „Protestwahl“ gegen 16 Jahre Helmut Kohl?
Man kommt dem Ergebnis der Wahl von 2017 analytisch nicht bei, wenn man mit diesem Etikett hantiert. Im Forum zu der Will-Sendung, das bereits lange vor Beginn geöffnet war, schrieb ein Beiträger: „Das Pack hat sich gewehrt, die Dauer-Indoktrination durch politische und mediale Volkserzieher hat nicht wie gewünscht gewirkt. Das Wahlergebnis ist die logische, zwangsläufige Konsequenz eines von etablierter Politik und Medien geschaffenen Klimas der arroganten Ausgrenzung eines großen Teiles der Bevölkerung als moralisch Minderwertige.“ Ein anderer meinte: „Es ist keine Protestwahl, Frau Will. Auch unsere Bürger sind ‚auf der Suche nach einem besseren Leben‘, und da habe ich bei Schwarz-Gelb-Grün erhebliche Zweifel.“ Habeck erklärte denn auch, dass eine „Jamaika“-Koalition nur funktioniert, wenn sie vorwärtsweisende Projekte verfolgt: Energiewende und Verkehrswende (als Beitrag der Grünen) und Digitalisierung (im Sinne der FDP). Worin der Beitrag der CDU/CSU besteht, müsse sie selbst definieren. Hauptproblem des Bundestagswahlergebnisses aber sei, dass eben ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht schnellere, sondern langsamere oder keine weiteren Veränderungen wolle. Und das nicht nur im Osten. Deshalb müsse die Politik „eine Heimatidee, eine Identitätsidee“ formulieren.
Markus Söder, bayerischer Finanzminister, dagegen erklärte in derselben Sendung, die CSU müsse aufpassen, dass die AfD für sie nicht so etwas werde, „wie die Linke für die SPD“. Das meinte, so wie die Linkspartei eine auf Dauer gestellte Partei links von der SPD geworden ist, dürfe nicht zugelassen werden, dass sich die AfD als Partei rechts der CSU dauerhaft konsolidiert. Dazu wiederholte er den alten Satz von Franz Josef Strauß, es dürfe keine Partei rechts von der CSU geben. Wie er sich das vorstellt, versuchte Söder vorzuführen, indem er bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten über das Flüchtlingsproblem und die „Obergrenze“ redete. Und er bestand auf dem Postbotensyndrom: Er will die verirrten Wähler bei der AfD wieder abholen und zur CSU zurückbringen.
Nun ist die bayerische CSU in der Tat einer der großen Verlierer dieser Bundestagswahl. Die erfolgsverwöhnte Staatspartei Bayerns, die das Land seit 1946 – bis auf die Jahre des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Högner (1954–1957) – regiert, hat bei dieser Bundestagswahl eine deutlichen Schlappe einstecken müssen. Bei Bundestagswahlen erreichte die CSU im Bundesmaßstab seit 1957 bis zur deutschen Vereinigung stets um die zehn Prozent, das höchste Ergebnis von 10,6 Prozent 1976 und 1983, das niedrigste 9,5 Prozent 1969; in Gesamtdeutschland ab 1990 waren es dann um die sieben Prozent, mit dem besten Ergebnis von 9,0 Prozent im Jahre 2002, als CSU-Chef Edmund Stoiber Kanzlerkandidat war, und lediglich 6,5 Prozent 2009. Aussagekräftiger sind die Resultate der CSU bezogen auf Bayern, denn das ist auch nach 1990 in seinen Grenzen geblieben. Hier gab bei Bundestagswahlen seit 1953 regelmäßig etwa jeder Zweite der CSU seine Stimme, zwischen 47,8 Prozent 1953 sowie 47,7 Prozent 1998 und 60,0 Prozent 1976 sowie 58,6 Prozent 2002. Im Jahre 2009 – nach den Landtagswahlen von 2008, bei denen die CSU erstmals die absolute Mehrheit im Landtag verloren hatte – waren es nur 42,5 Prozent, 2013 wieder 49,3 Prozent. Das war damals das beste Ergebnis der Christdemokraten: die CDU erreichte in Baden-Württemberg 45,7 Prozent, in Rheinland-Pfalz 43,3 und in Sachsen 42,6 Prozent. Die 6,2 Prozent im Bundesmaßstab und 38,8 Prozent in Bayern 2017 sind dagegen das schlechteste Wahlergebnis der CSU seit 1949.
CSU-Chef Horst Seehofer gab nach der Wahl die Losung heraus, es gelte jetzt, „die rechte Flanke zu schließen“. Joachim Herrmann, bisher bayerischer Innenminister und bei der Bundestagswahl 2017 CSU-Spitzenkandidat, meinte, dies bedeute „keinen Rechtsruck der CSU“. Generalsekretär Andreas Scheuer erklärte derweil: „Die Burka gehört nicht zu Deutschland“ und verlangte ein Verbot der islamistischen Vollverschleierung nach österreichischem Vorbild. Seehofer forderte vor Jamaika-Gesprächen mit FDP und Grünen eine Verständigung mit der CDU über eine schärfere Asyl- und Einwanderungspolitik. Würde Angela Merkel darauf eingehen, wären Sondierungs-, gar Koalitionsgespräche mit den beiden anderen Parteien entweder verunmöglicht oder diese müssten ihr Rückgrat in der Garderobe abgeben. Im Unterschied zur CSU haben die jedoch bei der Wahl zugelegt und erwecken derzeit den Eindruck, als strotzten sie vor Selbstbewusstsein.
Die AfD erhielt im Osten im Schnitt etwa zwanzig, im Westen an die zehn Prozent, erreichte mit 12,4 Prozent jedoch in Bayern ihr bestes West-Resultat. Horst Seehofer hat seit 2015 immer wieder die „Obergrenze“ und weitere Verschärfungen gefordert und Angela Merkel öffentlich zu düpieren versucht. Die hat das aber an sich abprallen lassen. So liegt nahe, die CSU hat so deutlich und vor allem an die AfD verloren, weil Seehofer immer wieder nach rechts geblinkt, aber weiter mit Merkel mittig gefahren ist. Da war die CSU die Kopie in einem Spiel, in dem die AfD das Original ist. Jetzt ist er geschwächt und insistiert, nicht nur zu blinken, sondern den Kurs zu ändern. Es ist zu bezweifeln, dass das einem geschwächten Seehofer besser gelingt als einem vor der Wahl innenpolitisch stärkeren. Den Kurs ändern kann Merkel nicht, ohne das Gesicht zu verlieren. So gilt, entweder Seehofer knickt wieder ein oder doch Merkel, deren CDU ja auch deutlich verloren hat. Oder einer von beiden geht und es kommt ein anderer. Nach Lage der Dinge wohl eher bei der CSU, deren nächster Parteitag für den 17. und 18. November 2017 angesetzt ist. Dort muss ein geschwächter Horst Seehofer seinen Parteitagsdelegierten die neue Lage erklären. Auch wenn Markus Söder aktuelle Ambitionen auf den Parteivorsitz dementiert, so wissen doch alle, dass er der nächstliegende Kandidat ist. Und die Christdemokraten haben mit Wahlverlierern nie viel Federlesens gemacht.
Bliebe noch die Auflösung der Fraktionsgemeinschaft von CSU und CDU. Über die hatte Franz Josef Strauß schon in den 1970er Jahren geredet, dann aber rasch die Finger davon gelassen – wenn beide Parteien bundesweit, das heißt auch gegeneinander antreten, würden gemäßigte Christdemokraten wohl auch in Bayern eher CDU als CSU wählen, was die CSU auf Dauer gewiss die absolute Mehrheit kosten würde. Hinzu kommt aktuell ein arithmetisches Problem: Im Bundestag von 2013, der 631 Abgeordnete hatte, kamen CDU und SPD auch ohne CSU auf die satte Mehrheit von 448 Sitzen. Der neue hat 709 Sitze und die CDU käme mit der SPD ohne CSU auf nur 353 und mit FDP und Grünen auf 347 Sitze. Es gibt jetzt also keine unionsgeführte Mehrheit ohne die CSU. Das weiß Seehofer. Es macht seine Stärke in der Schwäche aus. Die nächsten Wochen oder gar Monate werden spannend.