20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Das „Gelassenheitsgebet“

von Werner Sohn

Es könnte sein, dass das „Gelassenheitsgebet“ des amerikanischen protestantischen Theologen, Predigers und Philosophen Reinhold Niebuhr (1892–1971), vermutlich Anfang der 1930er Jahre in der praktischen Seelsorge entstanden, das bekannteste Gebet nach dem „Vaterunser“ geworden ist. Im 2. Weltkrieg fand es spontane Zustimmung bei vielen amerikanischen Militärgeistlichen und wurde an Millionen Soldaten verteilt. Die Organisation der „Anonymen Alkoholiker“ sorgte für eine weltweite Verbreitung. In einer der alten Fassungen Niebuhrs, hier zitiert nach dem Yale Book of Quotations, lautet es:

„O God and Heavenly Father.
Grant to us the serenity of mind to accept that which cannot be changed,
the courage to change that which can be changed,
and the wisdom to know the one from the other.”

Niebuhr legte allerdings auf ein Copyright keinen Wert, da er den Text zwar formuliert und in die Form eines Gebets gekleidet habe; der gedankliche Gehalt stamme jedoch aus einer historischen Quelle, an die er sich nicht mehr erinnere. Diese „Quelle“ ist bis heute nicht gefunden.
Im deutschen Sprachraum sorgte der Kieler Erziehungswissenschaftler Theodor Wilhelm (1906–2005), der 1951 eine deutsche Fassung unter dem Pseudonym eines schwäbischen Pietisten veröffentlichte, über viele Jahre für reichlich Verwirrung. Wilhelm kannte damals den Urheber nicht und traute später dem Prediger aus Massachusetts offenbar die genuine Schöpferkraft nicht zu. 1986 meinte er in einem Leserbrief an die FAZ, durch Niebuhr sei im amerikanischen Sprachbereich das Gebet lediglich populär geworden. Für die Popularität in Deutschland und den im wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelten Namen „Gelassenheitsgebet“ sorgte jedenfalls unabsichtlich Theodor Wilhelm. Nach späteren Recherchen und vielen kollegialen Diskussionen glaubte er schließlich an stoisches Gedankengut. Man fände Ähnliches wohl bei Seneca, und bei Epiktet gäbe es Passagen, die „bis in die Formulierung hinein“ mit dem „Gelassenheitsgebet“ übereinstimmten.
Das trifft zweifellos zu. So beginnt das berühmte Handbüchlein des Epiktet, durch den römischen Historiker Arrian auf uns gekommen, mit der Einteilung der Dinge (dihairesis), die in unserer Gewalt stehen, also geändert werden können, und die nicht in unserer Gewalt stehen. Die dritte Teilbitte des Niebuhrschen Gebets – die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden – hat also einen stoischen Bezug. „Weisheit“ oder „Klugheit“ ließe sich selbst für die theistischen Vertreter unter den Stoikern jedoch kaum erbitten. Die Unterscheidung kann von jedermann, der über einen gesunden Menschenverstand verfügt, durch vernünftiges Bedenken, die oberste Tugend der alten Griechen (phronesis), vorgenommen werden. Andere Stoiker hätten dem evangelischen Theologen wohl empfohlen: „Lass ab, und hoffe nicht, das von den Göttern bestimmte Schicksal durch Flehen abzuwenden.“
Ein allgemeiner Appell zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der die zweite Teilbitte betont – den Mut zu ändern, was geändert werden kann –, lässt sich den Stoikern ebenfalls nicht zuordnen. Auf Grundlage ihres Denkens wird man vielmehr die Frage stellen, ob und warum zu ändern ist, was sich vielleicht verändern lässt. Vorschusslorbeeren für den notorischen Veränderer gibt es demnach nicht. Er trägt die Begründungslast und nicht der am Überkommenen Festhaltende.
Die erste Teilbitte irritiert durch einen Begriff, der Niebuhrs Original (serenity prayer) wie den meisten Übersetzungen den Namen gegeben hat. Um welche Eigenschaft geht es wohl? Man könnte an die sprichwörtlich gewordene „stoische Ruhe“ denken. Dann hätte Wilhelm jedoch auf einen Titel verzichten müssen, der für die deutsche Erfolgsgeschichte womöglich dieselbe Zugkraft entwickelte wie der Text selbst. Zweifellos wusste der geistesgeschichtlich bewanderte Hochschullehrer, dass der Begriff „Gelassenheit“ der mittelhochdeutschen Wortschöpfungsgewalt eines Meister Eckehart (1260–1327) entsprungen ist, ein Wort, dass sich nicht übersetzen lässt und in das also auch nicht übersetzt werden kann.
Diese Unübersetzbarkeit gilt auch für serenity / sérénité / serenitas, wie der Romanist Ernst Robert Curtius (1886–1956) dargelegt hat. Die deutsche „Gelassenheit“ ist in eine weit ausgreifende Wortfamilie verwoben und in einem christlich-mystischen Kontext regelrecht volkstümlich geworden. Der fromme Mensch ist Gott gelassen, wenn er alles andere lassen kann. Die Gelassenheit unterliegt einem Alles-oder-Nichts-Prinzip: „Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst und unwandelbar, – der Mensch allein ist gelassen.“ In diesem Sinne deutet Meister Eckehart in der gleichen Predigt die unsere Theologen bis heute bekümmernde Schriftstelle: „Niemand hört mein Wort noch meine Lehre, er habe denn sich selbst gelassen.“
Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb die religiöse, zumindest transzendentale Bewandtnis der Gelassenheit erhalten, um schließlich im 20. Jahrhundert, unterstützt durch die zunehmende Umwandlung der Seelsorge in Psychotherapie, in eine eher multikulturell eingekleidete entspannte Stimmungslage einzumünden. Vor diesem Hintergrund konnte Theodor Wilhelms Gattin, „ein literarisch und künstlerisch bewanderter Geist“ (Wilhelm über Wilhelm), serenity durch Gelassenheit über- oder besser ersetzen, ein Vorgang, den der nachgiebige Herr Professor im erwähnten Leserbrief an die FAZ mit deutlichem Anflug von schlechtem Gewissen bedauerte.
Zu spät. Man muss das nicht mehr Veränderbare in der deutschen Variante von Niebuhrs „masterpiece“ nun akzeptieren und dabei „the serenity of mind“ erhoffen.
Die säkularisierte Gelassenheit ist bis heute von den Spuren ihrer Herkunft gezeichnet. Man wird sie vergebens von einem verlorenen Gott erbitten. Wer Ihn nicht mehr weiß, kann sie nicht einmal erahnen. Wer Ihn noch weiß, will zwar (vielleicht) den Alkohol und andere gefährliche Dinge, nicht aber sich selbst lassen. Um Gottes Willen, bloß das nicht! Seine „Gelassenheit“ ist instrumentell, zielgerichtet. Unsere auf pragmatische Belehrungen und Übungen orientierten Seelendoktoren und Lebensratgeber wissen zumeist, dass die anempfohlene „Gelassenheit“ nicht willentlich erreicht werden kann. Sie wird daher gerne zum Idealtypus stilisiert und mit allen guten und schönen Attributen (Liebe, Barmherzigkeit, Glück, Lebensfreude, Herzlichkeit, Urvertrauen, Dankbarkeit, Toleranz) vermischt, von denen sich der gebeutelte Zeitgenosse die eine oder andere Brosame erhoffen mag.
Im Wort serenity schwingt ein heiteres Hinnehmen von Dingen, die meiner Verfügung entzogen sind. Es bedarf der Gelassenheit nicht, ja, sie führt sogar in eine andere Bahn, sofern sie überhaupt ohne Gott verstanden werden kann. Wer von den heutigen Teilhabenden und Abkömmlingen deutscher Kultur von dem mystischen Gedanken, sich selbst zu lassen, noch angesprochen wird, den verweist er auf den eigenen letzten Lebensabschnitt. Für die Alten – also nicht die „Älteren“ – war er allgegenwärtig. Philosophen wie Platon haben das Charakteristikum ihres Faches gerne in der Formel zusammengefasst, mit seiner Hilfe sterben (lernen) zu können. Der letzte deutsche Papst (Benedikt XVI.) erklärte nach seiner Emeritierung, er wolle sich nun auf den Tod vorbereiten. Das heißt für ihn, den Eckehart- und Heidegger-Kenner: Er versucht die Gelassenheit. Der Tod als Ereignis ist zudem dasjenige, von dem ohne jedes Abwägen und Prüfen, ohne die dihairesis und phronesis der Stoiker, mit völliger Sicherheit von jedermann festgestellt werden würde, dass es nicht zu ändern ist. Gelassenheit tritt ein – wenn sie eintritt –, sobald das Ableben einsetzt und unumkehrbar geworden ist.
Ob der Verfasser des „Gelassenheitsgebets“, als das Dasein auf dieser Welt für ihn zu Ende ging, die Gnade empfand (oder empfing), mit „serenity of mind“ anzunehmen, was bestenfalls noch ein wenig aufzuschieben, aber nicht aufzuheben war? Wir wissen es nicht. Belegt ist aber durch autobiographische Notizen (1967), dass ihn der Erfolg seines Gebetstextes zuweilen genervt haben muss. Niebuhr war wegen Depressionen und Ängsten immer wieder in ärztlicher Behandlung, ein Umstand, der das serenity prayer zugleich zu einem glaubwürdigen Plädoyer zur Selbsthilfe macht. Zu der Zeit, als er noch nur als derjenige galt, der dem Text zu einer sensationellen Verbreitung und Popularität verhalf, erreichten ihn fast täglich Briefe des Dankes sowie Fragen nach dem begnadeten Urheber. Niebuhr schrieb, dass ihn jede Antwort, zu der er sich wohl verpflichtet fühlte, in tiefe Verlegenheit setzte: „denn ich wusste ja, dass meine Angstzustände der Bitte des Gebetes trotzten.“