20. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2017

Selbstzweifel in Zeiten der Bedrängnis

von Eckhard Mieder

Das Verrückte und Überraschende ist, dass ich wirklich lebe. Ich gehe in den Garten und wässere Gurken, Tomaten und Bohnen. Ich küsse meine Frau und freue mich, dass ich mit ihr zusammen lebe. Ich rede mit meinen Töchtern und freue mich, dass es sie gibt. Dass es sie wirklich gibt, und dass ich sie wirklich gezeugt habe. Halten Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, für selbstverständlich, dass ich lebe, dass Sie leben? Ich habe gelegentlich meine Zweifel.
Es ist, finde ich, schwierig geworden, an das eigene Leben zu glauben. Jeden Tag wird um mich geworben; jeden Tag erfahre ich, dass ich ein Anderer sein kann oder schon bin. Nämlich bin ich ein Empfänger von Meldungen, es ist nur eine Frage der Zeit, dass ich dann der bin, der ich sein soll. Wieso bin ich so begehrt, was wollt ihr aus mir machen? Ich bin wertvoll für euch?
Ich soll Tester für Hörgeräte werden. Büstenhalter in Übergrößen werden mir angeboten; ich bin weder Frau noch verfüge ich über eine exorbitante Bier-Brust, zur Schwerhörigkeit neige ich allerdings. Ich lese, dass an Nutzpflanzen experimentiert wird, die ohne Erde wachsen und gedeihen; mit ihnen würde es auch für mich möglich werden, zum Mars zu fliegen und dort einheimisch zu werden.
Außerdem werde ich zum Protest, zur Parteinahme, zur Solidarität ermuntert, jeden Tag, jede Stunde, immerzu soll ich Petitionen und Appelle unterschreiben. Ich bringe inzwischen vom Abschieben bedrohte Afghanen mit den Lobbyisten des Bundestages, diese mit genmanipulierten Pflanzen und vom Aussterben bedrohte Goldhamster durcheinander. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich nicht selber schon im Netz darum gebeten habe, mich entweder in die Pfanne zu hauen oder mich in den Himmel zu heben.
Mir werden Potenzmittel und Mieder angeboten; vermutlich soll ich mit dieser Mischung zum Aus- oder Rumhänge-Hero der Pornoindustrie, des Frankfurter Bahnhofviertels und der Modemarke Ass & Leak werden. Selbstverständlich kann ich Gewinner werden, wenn ich folgenden Code eingebe: XXXXXLLLKOTZ; oder wollen Sie, Herr Mieder, wirklich die Riesenchance vergeben, am Final-Spiel des diesjährigen Wimmelpimmel-Tennis-Turniers teilzunehmen? Ob mit Schläger, ob ohne Schläger, nichts hält so fest wie ein Hosenträger! (Marke habe ich vergessen.) Zudem muss ich (wer immer ich bin) noch folgende Frage beantworten: „Haben Sie eine alte Heizung? – Wann wird sie ausfallen?“
Auch hat sich unter den Produzenten dieser Welt und ihren Marketing-Prolls herumgesprochen, dass ich in meinem einzigen (wirklichen?) Leben ein Wanderer bin, der jährlich ein paar Wochen lang mit dem Zelt unterwegs ist. Extremer Muskelaufbau, mehr Kraft, Ausdauer und Pump Effect sowie Verkürzung der Regeneration sind angezeigt und angesagt, damit ich ein Mensch-Mann neuen Typus werde, mit Waschbrettbauch, muskulösem Nacken und einem Schrumpfkopf auf mächtigen Schultern?
Warum mir als marktweit bekanntem Fernwanderer Neuwagen mit bis zu 39 Prozent Rabatt angeboten werden, erschließt sich mir in diesem Zusammenhang nicht. Oder doch. Ich bin eben nicht ich, sondern ein Zombie, der ein Auto braucht, unbedingt. Wer läuft denn heutzutage zu Fuß durch die Landen, als sei er ein Geselle auf Wanderschaft, auf der Flucht oder Heinrich Heine? Und am besten ist es, ich kann Verträge nicht lesen und Angebote nicht richtig hören Womit wir wieder bei den Hörgeräten der Zukunft sind, die „wir“ schon heute im Angebot haben.
Gehe ich wirklich in den Garten und wässere Bohnen, Gurken und Tomaten? Küsse ich wirklich meine Frau? Liebe ich wirklich meine Töchter und die Enkelkinder? Oder wandle ich als lebende Zielscheibe durch die Welt der Imaginationen, Täuschungen, Selbsttäuschungen, bis ich endlich die nach allem haschende und von allem naschende Maschine bin, eingekleidet von den Textil-Teilen der Winterkollektion 2017/2018 von BOSS? Das walte Hugo?