20. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2017

Luthers Doktorvater – „vom Teufel beseelt“

von Detlef D. Pries

Besucher, die im Jahr des Reformationsjubiläums nach Wittenberg pilgern, könnten am Haus Kirchplatz 11 eine Tafel entdecken, die an „Andreas R. Bodenstein (Karlstadt)“ erinnert. Er sei „Theologe, Reformator, Prediger und Universitätsprofessor“ gewesen, liest man darauf, und habe von 1480 bis 1541 gelebt. Eben dieser Andreas Rudolff Bodenstein aus dem unterfränkische Karlstadt am Main – weshalb er sich nach dem Brauch seiner Zeit „Dr. Karlstadt“ (Carolstadius) nannte – stehe zu Unrecht im Schatten des ausgiebig gefeierten und in Maßen verdammten Martin Luther, findet der „Bücherpastor“ Martin Weskott, der das Geleitwort zu Rosemarie Schuders Buch verfasst hat. Der Versuch der Autorin, Bodenstein alias Karlstadt als einem „Nagel im Herz der Lutherischen Kirche“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, verdiene daher Dank.
Rosemarie Schuder hat indes keine Biografie des Vergessenen geschrieben, wenngleich sie Biografisches natürlich nicht auslässt. Vielmehr stellt sie das widerspruchsvolle Verhältnis zwischen Luther und Karlstadt dar: deren Miteinander und mehr noch deren Auseinandersetzungen. Durch zahlreiche historische Romane (darunter „Der Ketzer von Naumburg“, „Paracelsus“, „Die Erleuchteten“) als Kennerin jener Epoche ausgewiesen, nimmt sie den Leser mit auf ihre Recherchereise in die Zeit vor 500 Jahren, wobei sie die Wege etlicher Wegbegleiter und Widersacher ihrer Protagonisten kreuzt.
Entgegen der Angabe auf bewusster Gedenktafel datiert sie die Geburt Bodensteins wie die meisten Historiker auf das Jahr 1486. Demnach wäre er drei Jahre jünger als Luther gewesen. Und dennoch war er es, der dem späteren Reformator am 18. Oktober 1512 in Wittenberg den silbernen Doktorring ansteckte, nachdem er dessen Promotionsverfahren geleitet hatte.
Karlstadt selbst war nach Studien in Erfurt und Köln 1505 an die Universität „Leucorea“ (Weißer Berg – Wittenberg) gekommen und 1510 zum Doktor der Theologie promoviert worden. Von einer Italienreise 1515/16 kehrte er überdies als Doktor der Rechte zurück, aber auch mit gesundem Abscheu ob des verschwenderischen Lebens der Mächtigen unter der Regierung Papst Leos X. Zu dessen Einnahmequellen gehörten nicht zum geringsten Teil die Ablasszahlungen der Gläubigen, denen dafür die Vergebung ihrer Sünden versprochen worden war. So teilte Karlstadt denn auch den Zorn seines einstigen Eleven über die Ablassprediger vom Schlage eines Johannes Tetzel, den Luther in den 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 zum Ausdruck brachte. Gemeinsam verteidigten beide ihre Auffassungen über Ablass, Sünde, Reue, Beichte und den Machtmissbrauch des Papstes 1519 in einem Streitgespräch mit dem papsttreuen Johann Mayr aus Eck (Johann Eck) in Leipzig.
Während Luther 1521, in Acht und Bann getan, auf der Wartburg Zuflucht fand, reformierte Karlstadt in Wittenberg den Gottesdienst: Er schaffte die geheime Beichte ab, trat zu Weihnachten nicht im festlichen Ornat vor die Gemeinde, sondern im grauen Bauernkittel, und gab zum Abendmahl jedem Kirchenbesucher ein Stück der Hostie in die Hand, was als „unerhörter Vorgang“ galt, denn bis dahin hatte der Priester als Heilsbringer dem Gläubigen die Hostie auf die Zunge zu legen. Durch die Heirat mit Anna von Mochau am 19. Januar 1522 brach Karlstadt noch vor Luther mit dem Zölibat. Nur Tage später verkündete der Rat der Stadt Wittenberg die „neue Ordnung“, die maßgeblich von Karlstadt inspiriert war. Rosemarie Schuder beschreibt sie so: „Zur Armenpflege wurde eine allgemeine Kasse, der Kasten, eingerichtet. Niemand sollte in Wittenberg als Bettler auf die Straße gehen müssen. Die Häuser der öffentlichen Lustbarkeiten wurden geschlossen. Keine Frau in Wittenberg sollte ihren Körper verkaufen müssen. Wer sein Leben nicht mehr als Mönch oder Nonne verbringen wollte, konnte das Kloster verlassen.“ In dieser Ordnung hieß es zudem: „Es sollen auch die Bilder und Altäre in der Kirche entfernt werden, um Abgötterei zu vermeiden, drei Altäre ohne Bilder sollen vollauf genügen.“ Als es im Februar bei der „abtuhung der Bylder“ zu Tumulten in der Wittenberger Stadtkirche kam, als Heiligenbilder zerrissen und zerstückelt wurden, begannen sich aber auch die weltlichen Herrscher um die Autoritätshörigkeit der Leute zu sorgen. Luther eilte ihnen von der Wartburg zur Hilfe: In acht Predigten zur Fastenzeit im März 1522, von der Autorin eingehend analysiert, rief er die Gläubigen auf, sich nicht von Frevlern verwirren zu lassen. Wen er mit den Frevlern meinte, verriet er zunächst nicht. Als er seine Philippika indes mit den Worten „Ich kenne den Teufel“ beschloss, konnten seine Zuhörer nur auf Karlstadt schließen.
Wie Karlstadt-Bodenstein über die wahren Bilderstürmer dachte, darauf geht Schuder kaum ein. Für Luther wurde der einstige Doktorvater jedenfalls zum „ärgsten Feind“, zum Seelenmörder und Sündengeist, zum Schwärmer, dessen Geist vom Teufel besessen sei.
Aus Wittenberg vertrieben, setzte Karlstadt sein Werk in Orlamünde an der Saale als „Nachbar Andres“ fort, schaffte die Kindertaufe ab, ließ Kirchenlieder auf Deutsch singen, derweil die Orgel und die Heilgenbilder aus der Kirche entfernt wurden – mit Zustimmung der Gemeinde. Als er Grundeigentümer, die ihre Untertanen zu Frondiensten auch am Sonntag zwangen, als „gottlose Tyrannen“ geißelte und sich damit gegen die angeblich von Gott bestimmte Obrigkeit verging, schimpfte Luther: „Wenns nun gleich wahr wäre, dass D. Karlstadt nicht Mord und Aufruhr im Sinn hätte, so muss ich doch sagen, dass er einen aufrührerischen und mörderischen Geist hat, wie der zu Allstedt.“ Gemeint war Thomas Müntzer. Zwar wollte Karlstadt mit Müntzer und den Allstedtern keineswegs gemeinsame Sache machen, denn er war der Gewalt abhold, doch rettete ihn das nicht davor, verdammt und aus Sachsen ausgewiesen zu werden. Die Schriftstellerin beschreibt das unstete Leben, dass der Verfolgte über Jahre führen musste, bis er in Basel wieder Anerkennung als Universitätslehrer und Prediger fand. Dort wurde Andreas Bodenstein am 25. Dezember 1541 von der Pest dahingerafft.
Rosemarie Schuder sei eine Schriftstellerin, die „die Spuren der Ketzer aufnimmt und ihr Erbe bewahrt“, schreibt Weskott. Diesem Ruf ist sie mit ihrem Buch über Bodenstein aus Karlstadt vollauf gerecht geworden.

Rosemarie Schuder: „Ich kenne den Teufel“. Martin Luther und sein Doktorvater Andreas Bodenstein aus Karlstadt, Niederlausitzer Verlag, Guben 2016, 148 Seiten, 17,95 Euro.

Bis 31. Oktober würdigt das Stadtgeschichtliche Museum in Karlstadt den Reformator durch eine Sonderausstellung „Andreas Bodenstein, genannt Dr. Carlstadt und die Reformation in Deutschland“.