von Heerke Hummel
Das Buch „Auf dem Weg zum grünen Kapitalismus?“ von Hendrik Sander ist die gedruckte Version einer an der Universität Kassel verteidigten Dissertation. Entsprechend theoretisch anspruchsvoll ist sein Inhalt. Ausgangspunkt der Analyse ist die 2007/08 ausgebrochene Krise der Weltwirtschaft, die sich, so der Autor, zu einer multiplen Krise der Weltgesellschaft zugespitzt hat. Dabei interessieren ihn besonders die Entwürfe eines Green New Deal mit ihren Vorschlägen für eine forcierte ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der Gestaltung einer neuen, zukunftsfähigen Gesellschaftsform. Ein solcher grüner Kapitalismus könnte zwar, schreibt Sander, die Ursachen der kapitalistischen Krisenprozesse nicht lösen, aber der Bearbeitung der gesellschaftlichen Widersprüche eine relativ stabile Bewegungsform geben. Und um die Bedeutung eines solchen Szenarios einschätzen zu können, sei es notwendig, das Verhältnis von Gesellschaft und Natur auf einer theoretischen Ebene zu bestimmen. Dies ist Gegenstand des ganzen ersten Kapitels. Dabei geht der Autor der Frage nach, ob sich in den Auseinandersetzungen um die Überwindung der multiplen Krise gesellschaftliche Veränderungen vollziehen beziehungsweise Strategien vorangetrieben werden, die auf eine tiefgreifende ökologische Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaft zielen, und ob sich dadurch ein grüner Kapitalismus als neue historische Formation durchsetzen könnte.
Der Analyse der theoretischen Perspektive schließt sich als „Zeitdiagnose“ die Untersuchung der Entwicklung des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten an. Für Letztere ist die Formierung des Neoliberalismus kennzeichnend, deren ökonomische Prozesse beleuchtet werden. Hier hätte sich nach Ansicht des Verfassers angeboten, tiefer auf die Veränderungen im Weltfinanzsystem einzugehen, die mit der Beendigung der Golddeckung des US-Dollars im Jahre 1971 in Zusammenhang standen. Denn diese Maßnahme war einerseits als Rettungsaktion der USA, um den Abfluss der Goldreserven der USA im Umfang von mehr als 8.000 Tonnen dieses Edelmetalls zu stoppen, selbst Ausdruck einer tiefen Krise. Andererseits ging dadurch ein (zumindest relativ) festes Maß der Werte verloren. Die Risikobereitschaft bei Geschäften mit sogenannten Finanzprodukten konnte sich weiter erhöhen, weil durch die weitgehende Abkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft finanzielle Verluste nicht unmittelbar sachliche Besitzverluste der Entscheidungsträger bedeuten.
Eine von zahlreichen tatsächlichen Konsequenzen war die Bankenrettung mit Billionen-Beträgen aus staatlichen Kassen nach 2008. Sie stellte ihrem Wesen nach eine Vergesellschaftung vermeintlich privater Schulden dar. Kann unter solchen Umständen noch davon gesprochen werden, dass die Entscheidungen von Bankern und Managern in Industrie und Kapitalgesellschaften aller Art, die Finanz- und Verteilungsverhältnisse betreffend, private Angelegenheiten berühren? Ist also die heutige Gesellschaft mit dem Begriff Kapitalismus überhaupt noch richtig definiert? Und ist sie nicht durch einen extrem ausgeprägten Widerspruch zwischen ihrem objektiven Sein und ihrem Bewusstsein von der eigenen Verfasstheit charakterisiert, zwischen ihrer weitestgehend vergesellschafteten materiellen, ökonomischen Basis und ihrem geistig-politisch-juristischen Überbau? Solche Fragen stellten sich dem Verfasser bei der Lektüre des Buches aus politökonomischer Sicht.
Vor nun schon einhundert Jahren immerhin sprach W. I. Lenin bereits von Imperialismus und charakterisierte ihn treffend als parasitären, faulenden Kapitalismus. Daraus ist in den letzten Jahrzehnten eine Gesellschaft des Chaos’ und des Wahnsinns in des Wortes direkter Bedeutung geworden. Denn was – etwa in ihrem Finanzsystem – abläuft, von Menschen praktiziert und mit Nobelpreisen dekoriert wurde, entbehrt oft jeder Vernunft und wird zugegebenermaßen auch von Eliten in Wirtschaft und Politik weder verstanden noch beherrscht. Wolfgang Schäuble sprach öffentlich von „weitermachen wie bisher nach der Methode Versuch und Irrtum“.
Von besonderer und zunehmender Aktualität sind Sanders Ausführungen zur Postdemokratie, also zu demokratischen Substanzverlusten und Autoritarisierung, ohne dass der formale Rahmen der parlamentarischen Demokratie verlassen wird. Dem muss es durchaus nicht widersprechen, wenn gleichzeitig festgestellt wird, „dass auch in den subalternen Klassen eine breite Zustimmung zur imperialen Lebensweise fortbesteht und für die Alltagspraxis plausible Alternativen fehlen.“ Die Normalität der vorherrschenden Naturverhältnisse (Verhältnisse der Gesellschaft zur Natur) beeinflusse die Krisenwahrnehmung und lasse die Dramatik der ökologischen Krise kaum ins Alltagsbewusstsein vordringen, meint Hendrik Sander.
Was aber ist oder wäre grüner Kapitalismus? „Der Kern einer solchen Formation würde darin liegen, dass der ‚Antagonismus zwischen den Bedürfnissen der erweiterten Kapitalakkumulation […] und den Bedürfnissen unseres kollektiven Überlebens in relativ stabilen öko-sozialen Systemen […] nicht gelöst, sondern zur Triebfeder eines neuen, grünen Kapitalismus gemacht (wird)‘“, schreibt Sander, selbst andere Autoren zitierend. Die ökologische Modernisierung würde da zum zentralen Vergesellschaftungsprinzip und zum Entwicklungsmotor eines ganzen historischen Blocks werden. Hier mag der Leser fragen: Hat nicht Ähnliches schon immer für die Wirtschaft und das Wirtschaften der Menschen gegolten, die sich stets den natürlichen Bedingungen (in des Wortes doppelter Bedeutung) und den technischen Errungenschaften anpassen mussten? Weshalb also nun „grüner“ Kapitalismus, vielleicht gar neben oder in einem „digitalen“?
Nach ausführlichen Betrachtungen zur deutschen Energiepolitik zieht Sander „valide Schlussfolgerungen“, ob es zu einer tiefgreifenden ökologischen Modernisierung der deutschen Stromversorgung kommt und ob dieser Prozess als Keimform eines grünen Kapitalismus angesehen werden kann und als Muster, wie ein gesellschaftlicher Weg zu einer solchen Produktions- und Lebensweise aussehen könnte. Dabei zieht er die Bilanz, „dass keine durchsetzungsfähigen Akteure oder Staatsapparate auszumachen sind, die Strategien zur Ökologisierung der Energieversorgung wirksam vorangebracht haben.“ Dennoch schreite der sukzessive ökologische Umbau der Stromversorgung durchaus voran, wenn auch in gebremster, widersprüchlicher Form.
Mit der Bemerkung, die traditionellen grünen Akteure seien durch die Spitzen der Exekutive ihrer Initiative und ihrer politischen Projekte beraubt worden und verlören sukzessive die Kontrolle über die erneuerbaren Energien, spricht er der politischen grünen Bewegung quasi ihre Daseinsberechtigung ab. Sander spricht von einem Prozess ökologischer Modernisierung, der die Keimform eines grünen Kapitalismus hervorbringen könnte, aber das Muster einer passiven Revolution erkennen lasse. Dieses Schema sei dadurch gekennzeichnet, dass kein Block gesellschaftlicher Kräfte willens oder in der Lage ist, die Etablierung einer neuen Produktions- und Lebensweise politisch anzuführen. Aber es vollziehe sich eine inkrementelle Transformation der Naturverhältnisse in Richtung eines grünen Kapitalismus, die von den dominanten Kräften des Staates bestimmt werde.
Nach Sanders Verständnis sollte eine kritische Wissenschaft im Sinne von Gramscis Philosophie der Praxis als Orientierung für ein politisches Handeln dienen, das auf eine umfassende gesellschaftliche Emanzipation gerichtet ist. Das Ziel solcher Veränderungen würde in einer (nach seinen Worten sozialistischen) Gesellschaft liegen, „in der die Menschen ihre gemeinsamen Lebensbedingungen kollektiv gestalten können, um tatsächlich die strukturellen Ursachen der multiplen Krise zu lösen und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.“ Unter solchen Bedingungen würde sich auch die Chance eröffnen, die Beherrschung der Natur (im Sinne ihrer Vergewaltigung) auf dem Wege einer Demokratisierung der Naturverhältnisse abzubauen. Denn es komme darauf an, überhaupt erst „Raum für einen gesellschaftlichen Lern- und Reflektionsprozess“ zu schaffen, um weniger herrschaftlich verfasste Formen der Naturaneignung zu erproben.
Alles in allem hat Hendrik Sander ein öffentliches Diskussionsangebot für Richtungsentscheidungen vorgelegt, das gerade in diesem Superwahljahr auf ein breites, parteiübergreifendes Interesse stoßen dürfte.
Hendrik Sander: Auf dem Weg zum grünen Kapitalismus? Die Energiewende nach Fukushima, Bertz + Fischer GbR, Berlin 2016, 322 Seiten, 19 Euro.
Schlagwörter: Finanzkrise, grüner Kapitalismus, Heerke Hummel, Hendrik Sander, Neoliberalismus, ökologische Modernisierung, Postdemokratie