von Jochen Mattern
„Wie hast du’s mit der Religion?“– die Gretchenfrage aus Goethes Faust-Tragödie stand kürzlich im Sächsischen Landtag zur Diskussion. Beantragt hatten die Aktuelle Debatte die Fraktionen von CDU und SPD, die in Sachsen eine Koalition bilden. Ihnen schien der Evangelische Kirchentag in Berlin und Wittenberg im Mai des Jahres ein geeigneter Anlass zu sein für eine Befassung des Landesparlamentes mit Religionspolitik. Im Jahr des 500. Reformationsjubiläums passten CDU und SPD die Gretchenfrage dem historischen Ereignis an und gaben der Debatte den Titel: „Dem Volk aufs Maul schauen – Luther heute – Kennen und Leben christlicher Werte in unserer Zeit?“
Außer dem Anlass war jedoch nichts aktuell an der Debatte. Und das Fragezeichen im Debattentitel hatte einen bloß rhetorischen Charakter. Das Rednerpult im Parlament funktionierten sie zu einer Kanzel um, von der herab sie die regierungsoffizielle Position im Umgang mit den Konfessionen verkündeten. So postulierte die christdemokratische Kultusministerin unmissverständlich: „Bildung ist untrennbar mit christlichen Werten verbunden.“ Sie verwies auf das sächsische Schulgesetz, in dem „ein ganz klarer Bildungs- und Erziehungsauftrag formuliert“ ist. Der von der Ministerin angesprochene Paragraf im Schulgesetz wurde 2004, auf Betreiben der Christdemokraten und gegen den heftigen Protest der Opposition, in das Schulgesetz aufgenommen. Er verpflichtet die Schulen in ihrem Tun „insbesondere“ auf „die christliche Tradition im europäischen Kulturkreis“. Zur Begründung für die Bevorzugung des Christentums in Schulrecht und Schulpraxis hatte der Vorsitzende der CDU-Fraktion angeführt: „Wer im Schulsystem darauf verzichtet‚ insbesondere an die christlichen Traditionen anknüpfend, Werte und Wissen zu vermitteln, der trägt zu einer beispiellosen Verarmung und Orientierungslosigkeit der Bevölkerung bei.“
Hier artikuliert ein maßgeblicher Unionspolitiker einen grundsätzlichen Vorbehalt allem menschlichen Tun gegenüber. Ein Vorbehalt, der zum Kernbestand konservativer Ideologie gehört. Der jüngst verstorbene Kardinal Meisner zum Beispiel hatte es als „eine große Pervertierung des Menschen“ bezeichnet, wenn der Mensch die „Identifikation auf Gott hin vergisst“. Dadurch werde er zum „Antigott, wie wir es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa in grausamster Weise erleben mussten“. Mit dem Argument, dass „alle bürgerlichen Bande aufgelöset“ seien, mithin Anarchie und Bürgerkrieg sich ausbreiten, „wenn der Mensch nichts glauben darf“, hatte schon der Glaubenspatriarch in Lessings Nathan die Religionsbedürftigkeit des Menschen begründet. Nach der festen Überzeugung von Glaubenspatriarchen fehlt dem Menschen, der nicht an Gott glaubt, etwas Wesentliches zum echten Menschsein. Erst der rechte Glaube macht den Menschen zu einem humanen Wesen. Zugleich rechtfertigt das pessimistische Menschenbild den Anspruch der Kirchen auf politischen Einfluss in Staat und Gesellschaft. Weil der Unglaube an den Grundfesten der politischen Ordnung rüttelt, bedarf der Staat der Religion. Sie bildet einen Grundpfeiler von Staat und Gesellschaft. Die Trennung von Staat und Kirche, ein Grundmerkmal liberaler Gesellschaften, steht damit zur Disposition.
In der Regierungsprovinz Sachsen ist das Verhältnis von Glaube und Politik, von Kirche und Staat jedenfalls ein sehr enges. Die Kirchen gelten der Landespolitik als Moralagenturen (Hans Joas), die eine zivilisierende Wirkung auf das Verhalten der Bevölkerung ausüben und damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Stabilisierung der Gesellschaft leisten. Das war auch der Tenor der Debatte im Sächsischen Landtag über die Gretchenfrage. „Unser großes Problem“, bekräftigte ein Unionsabgeordneter, ist, dass „immer weniger Menschen an irgendetwas glauben“. Und die Sozialdemokraten warnten vor einer in „Egoismus und Materialismus gefangenen Gesellschaft“, in der sich die „Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens“ ausbreite. Kirche müsse deshalb, „gerade im Osten“, wie betont wurde, „eine Schlüsselrolle“ übernehmen. Es blieb einer Katholikin aus der oppositionellen Grünen-Fraktion vorbehalten, Kritik an der Politisierung des Glaubens zu üben: Sie hielte es für „bedenklich“, wenn die Politik ihre Aufgabe darin sehe, „christliche Werte zu postulieren“. Dass ein säkularer Staat, um bestehen zu können, eine „Staatsreligion“ bedürfe, bestritt die Rednerin unter Verweis auf die theokratische Praxis in verschiedenen Ländern Europas.
Erstaunlicher jedoch als die Propagierung christlicher Moral durch Sachsens Christdemokraten war das Verhalten der Sozialdemokratie in der Debatte. Dass sie in das Lamento der Union über die Gott- und Orientierungslosigkeit der Ostdeutschen einstimmte, zeugt von einem bemerkenswerten Sinneswandel in der Partei. Hatte doch die SPD-Fraktion 2004 den schulgesetzlichen Vorstoß der CDU, christliche Werte und Traditionen in Bildung und Erziehung zu privilegieren, als einen Bruch der Landesverfassung abgelehnt. Das hindert sie eine Dekade später jedoch nicht daran, ihrerseits dem Bruch mit der religiösen und weltanschaulichen Neutralitätspflicht des Staates das Wort zu reden.
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