von Lutz Unterseher
„Ebenso wenig wie die sozialistischen Parteien des Auslandes halten die nichtsozialistischen Parteien des Inlandes in wahlnumerischer oder gar organisatorischer Hinsicht mit der Sozialdemokratie Deutschlands einen Vergleich aus.“
Dieser Befund von Robert(o) Michels, dem deutsch-italienischen Klassiker der Parteiensoziologie, bezog sich auf eine Partei, die im Jahre 1906 etwa 400.000 straff organisierte Mitglieder hatte – bei einer Wählerschaft von rund drei Millionen. Damit kamen auf 100 Wähler 13 organisierte Sozialdemokraten, was eine Dichte der Durchdringung von Partei und Wählern anzeigt, die in späteren Dekaden nie wieder erreicht wurde.
Die Sozialdemokratie war fest in ihrem Milieu verankert: nämlich dem der Industriearbeiterschaft. Michels, der speziell die sozialdemokratische Organisation in München untersucht hatte, bescheinigte dieser damals einen Anteil an „Lohnarbeitern“, der bei fast vier Fünfteln lag. Die Funktionäre der Partei waren, als Angestellte, zwar der „Kleinbourgeoisie“ zuzurechnen, doch hatten auch sie mit großer Mehrheit ihre Elternhäuser in der Arbeiterschaft.
Machen wir einen großen Sprung in der Zeit! In der ersten Hälfte der 1950er Jahre hatte die SPD in der Bundesrepublik etwas über 600.000 Mitglieder (bei einer Bevölkerung, die im Umfang fast derjenigen des Deutschen Reiches von 1906 entsprach). Die Zahl ihrer Wähler lag bei der Bundestagswahl von 1953 bei knapp acht Millionen. Die Durchdringung von Partei und Wählern hatte also gegenüber den Werten aus dem Jahre 1906 deutlich abgenommen. Der Übergang von der „Milieupartei“ zur „Volkspartei“ kündigte sich an.
Allerdings: Fast über die gesamten 1950er Jahre hinweg lag unter den in die SPD neu Eingetretenen der Anteil der aus der Arbeiterschaft Stammenden noch deutlich über dem – freilich abnehmenden – Anteil der Lohnempfänger an allen Erwerbstätigen. Mit dem Ende jenes Jahrzehnts, das für die Sozialdemokraten mit dem Godesberger Programm als plakativem Abschied vom „Milieu“ endete, gab es dann aber eine Trendänderung: Die Anteile der Neueintritte aus der Arbeiterschaft näherten sich den realen Proportionen unter den Erwerbstätigen immer mehr an – um dann am Anfang der 1970er Jahre sogar unterproportional auszufallen.
Komplementär ist zu notieren, dass sich zwischen etwa 1955 und 1967 die Neueintritte von Angestellten und Beamten mehr oder weniger so bewegten, wie es dem Anstieg ihres Anteils an allen Erwerbstätigen entsprach. In den folgenden Jahren zeichnete sich dann aber ein Auseinanderklaffen der Entwicklungen ab: zunehmend überproportionale Eintritte von Bürgerinnen und Bürgern aus der Beamten- und Angestelltenschaft.
Es handelte sich um die Zeit, in der die Mitgliederzahl der SPD steil anstieg: bis Mitte der 1970er Jahre auf eine Million. Auch die Zahl der Wähler schwoll dramatisch an. So waren bei den Bundestagswahlen 1972 und 1976 gut 17 beziehungsweise 16 Millionen Wähler zu verzeichnen. Die Partei galt nun wegen erwiesener Regierungsfähigkeit (zunächst durch Koalitionsbeteiligung, dann durch Koalitionsführung) und wegen ihrer zukunftsoffenen Politik (Stichwort: „Verständigung mit dem Osten“) auch weit bis ins bürgerliche Lager hinein als wählbar.
Ein weiterer Zeitsprung: In der ersten Hälfte dieser Dekade lag die Mitgliederzahl der SPD bei nur noch etwas über der des Jahres 1906 – und das bezogen auf eine Gesamtbevölkerung, deren Umfang um ein gutes Viertel größer ist. Die – geschrumpfte – Partei konnte 2013, bei den Bundestagswahlen, die Stimmen von gut 11 Millionen Wählerinnen und Wählern gewinnen: zwar deutlich mehr als unter den widrigen Bedingungen des Kaiserreichs, aber doch extrem weniger als zu ihren Hochzeiten in der alten Bundesrepublik.
Die SPD-Mitgliedschaft unserer Dekade ist durch ein deutliches Überwiegen der älteren Jahrgänge und der Männer gekennzeichnet. Die Hälfte hat höhere Bildung (37 Prozent: Abitur und Studium, 13 Prozent: nur Abitur). Nur 16 Prozent sind Arbeiter, aber 42 Prozent (!) Beamte und Angestellte des Öffentlichen Dienstes. Dazu kommen noch 30 Prozent Angestellte in der Privatwirtschaft. Nur ein kleiner Rest rechnet sich zu den Selbständigen. Wir sehen also, dass der Trend, der sich bereits im Kontext des Mitgliederzuwachses der Ära Willy Brandt abzeichnete, beträchtliche strukturelle Auswirkungen gezeitigt hat.
Vor dem Hintergrund des geringen Arbeiteranteils erstaunlich: Gut zwei Fünftel der Mitgliedschaft sind gewerkschaftlich organisiert. Damit liegt der Organisationsgrad der eingeschriebenen Sozialdemokraten bei mehr als dem Doppelten des Wertes für alle abhängig Beschäftigten.
Wir erkennen den zentralen sozialdemokratischen Typus unserer Tage: männlich und „in den besten Jahren“, mit höherer Bildung und in guter Position im Öffentlichen Dienst tätig sowie – relativ wahrscheinlich – Mitglied einer Gewerkschaft. Mit Ausnahme der Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht gerade das, was einer erwarten würde, der die SPD immer noch zumindest in gewissen Aspekten von der Arbeiterkultur geprägt sieht!
1970/71 führte infas eine Repräsentativerhebung unter den SPD-Mitgliedern in der Parteihochburg Dortmund durch. Die Ergebnisse dieser Untersuchung können Hinweise dazu geben, wie jene, die heute die Partei dominieren, mental gestrickt sind.
Bei der Analyse der Ergebnisse wurden zwei Gruppen miteinander verglichen: jene, die zwischen 1961 und 1967 eingetreten waren und unter denen der Arbeiteranteil noch relativ hoch war, und Mitglieder aus der Eintrittswelle von 1970, die bereits stärker von der Angestellten- und Beamtenschaft geprägt erschien. Eindrücke: Die „neuen“ Mitglieder unterschieden sich von den „alten“ in mehrerlei Hinsicht. Sie gaben sich radikaler, liebäugelten mit politischen Optionen links von der SPD und sahen in dieser eher eine „Arbeiterpartei“ und weniger eine „Volkspartei“. Im Übrigen war man eher bereit, in der SPD ein Amt zu übernehmen, sich ernsthaft zu engagieren.
Diese Antwortverteilung bedarf der Interpretation. Mit Bezug gerade auch auf den gegenwärtig zentralen Mitgliedstypus, der offenbar in der Brandt-Ära in relevanter Zahl die Parteibühne betrat, böte sich etwa die folgende – nur leicht karikierende – Charakterisierung an: Es handelt sich um Menschen mit tendenziell höherem Sozialstatus im staatlich-öffentlichen Bereich, deren Bestreben nach Aufstieg (oder Absicherung ihres Einflusses) die Mitgliedschaft in der SPD, und vielleicht noch in einer Gewerkschaft, der damit gegebenen Beziehungsgeflechte wegen sinnvoll erscheinen lässt.
Diese eher egoistische Motivation wird durch einen plakativen, aber irgendwie beliebigen Altruismus kompensiert und kaschiert durch verbale Radikalität, energischen Kampf für die „Unterprivilegierten“ – oder den Artenschutz – und gegen „Rüstungsexporte“ oder die Umweltverschmutzung oder …
Schlagwörter: Lutz Unterseher, SPD