20. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2017

Wohin steuert Macron?

von Detlef Puhl

Jetzt geht es los. Frankreichs Wähler haben entschieden. Und zwar deutlich. Mit 66 Prozent haben sie Emmanuel Macron ins Präsidentenamt geschickt. Er hat doppelt so viele Stimmen erhalten wie die Führerin des rechtsextremen Front National, die gleichwohl das beste Ergebnis eingefahren hat, das ihre Partei je erzielen konnte. 34 Prozent für den Front National: für die Abkehr von Europa, für die Aufkündigung grundlegender Verträge und Abkommen mit Frankreichs Nachbarn, für Abschottung und fremdenfeindlichen Nationalismus, für die vermeintlich einfachen Lösungen von Problemen nach dem Motto „Das Volk hat immer recht, und ich vertrete das Volk“, für einen aggressiven und verleumderischen Politikstil – so wie Marine Le Pen ihn in der letzten Fernsehdebatte mit Emmanuel Macron vor dem Zweiten Wahlgang am 3. Mai zur Schau gestellt hatte. Am Beginn einer Betrachtung dieser Präsidentschaftswahl muss der Blick auf den Kelch gehen, der auch an uns vorübergegangen ist.
Die Zahl der Enthaltungen und ungültigen Stimmen war hoch. Zeichen dafür, dass viele Wähler sich nicht für einen dieser beiden Kandidaten entscheiden konnten oder wollten. Aber nun ist Emmanuel Macron im Amt. Die Honneurs in Berlin sind gemacht, der Regierungschef ernannt – Edouard Philippe, einst enger Mitarbeiter von Alain Juppé, dem gemäßigten Republikaner und früheren Minister und Premierminister unter Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy. Ein Rechter also, wie er sich selbst nennt. Die Ernennung der kompletten Regierung steht unmittelbar bevor. Jetzt geht es also los.
Geht es jetzt wirklich los? Und was genau geht los? Es bleibt spannend und noch reichlich unübersichtlich. Dieser Präsidentenwechsel war schließlich beispiellos und das Ausmaß des Politikwechsels, der damit einhergehen wird, ist noch nicht abzusehen. Der neue, jüngste Präsident in der jüngeren Geschichte Frankreichs übernimmt das Amt von Francois Hollande, einem Mann, der ihn gefördert, für den er gearbeitet hat; den er aber verlassen, manche sagen: verraten, hat, indem er eine konkurrierende politische Bewegung gründete, die ihn jetzt in das höchste Amt geführt hat. Macron hat nicht Hollande besiegt, der ja auch nicht wirklich ein politischer Gegner war. Hollande ist gar nicht erst zur Wahl angetreten, weil Macron aktiv und letztlich erfolgreich dazu beigetragen hat, dass sich die politische Heimat des Präsidenten, die Sozialistische Partei, noch während seiner Amtszeit und ihrer eigenen Regierungszeit selbst zerlegte. Es übernimmt also nicht ein siegreicher Präsident von einem in der Wahl von ihm besiegten Kandidaten der gegnerischen Partei, wie es bisher meist der Fall war. Es übernimmt ein talentierter, ehrgeiziger Zögling von seinem müden und unentschlossenen Förderer, der zwar eigentlich gern weiter gemacht hätte, aber von seinen eigenen Leuten, nicht nur von Macron, an den Rand gedrängt wurde.
Zugleich hat der junge Präsident, der dem alten gedient hat, freilich mit der Ankündigung gesiegt, dass er alles anders machen, nicht den Kurs der Regierung fortsetzen will, der er selbst angehörte, die er aber im Streit verlassen hatte. Er hat nicht nur das faktische Ende der Partei Francois Mitterrands befördert, sondern macht sich nun daran, auch bei der Zerlegung der klassischen Rechten, den Republikanern, kräftig mitzuhelfen. Schon nach dem ersten Wahlgang, als der Kandidat der Rechten und des Zentrums, Francois Fillon, ausgeschieden war, begann der Zerfallsprozess, als einige Prominente, auch Fillon selbst, zur Wahl Macrons aufriefen, andere dies ausdrücklich nicht taten. Nun, nachdem Macron den Republikaner Philippe zum Premierminister ernannt hat, ist das Dilemma auf der Rechten noch größer. Sollen die Republikaner ihn und seine Regierung unterstützen oder bekämpfen?
Diese Frage ist deshalb ein wahres Dilemma für die Republikaner, aber auch für die Sozialisten, weil ja die Parlamentswahl am 11. und 18. Juni ansteht und der Noch-Republikaner Philippe eine parlamentarische Mehrheit für die Politik des Präsidenten erringen muss, die auch eine Reihe prominenter Unterstützer aus der Sozialistischen Partei hat. Kandidaten, die sich für die neue Partei des Präsidenten „La République en marche“ in einem Wahlkreis bewerben, werden dies gegen ihre oft alt eingesessenen Freunde bei den Republikanern oder den Sozialisten tun müssen – mit unsicherem Ausgang.
Es ist also überhaupt nicht sicher, ob Macron eine eigene Mehrheit im Parlament erhalten, wer von seinen Unterstützern aus den klassischen Parteien sich durchsetzen und wie das Verhältnis zwischen der Partei des Präsidenten und den klassischen Parteien aussehen wird. Diese müssen jetzt zunächst um ihre eigene Identität kämpfen und sich entscheiden, ob sie zur Regierungsmehrheit oder zur Opposition gehören wollen.
Diese Phase zwischen Präsidenten- und Parlamentswahl wird auch beispiellos sein, weil es nicht einfach darum geht, dass die Partei des gewählten Präsidenten auch eine Mehrheit in der Nationalversammlung erringt. Diese Partei gibt es erst seit einer Woche. Und zuvor war sie eine Bewegung, die selbst erst vor gut einem Jahr entstanden ist. Das ganze parlamentarisch-politische System Frankreichs orientiert sich gerade neu. Von der Zusammensetzung der Nationalversammlung hängt aber ab, ob der junge Präsident Macron, auf den so viel Hoffnung und Erwartung projiziert wird, überhaupt effektiv arbeiten kann. Dafür aber müssen sich nicht nur die klassischen Parteien der Rechten und der Linken in kürzester Frist völlig neu sortieren; auch die neuen Parteien und Bewegungen, die im Laufe dieser Kampagne entstanden sind, müssen ihren Platz finden. Am Ende könnte sich auch das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung völlig neu gestalten.
In dieser Zeit des „Interregnums“ wird der junge Präsident, der, das muss noch einmal betont werden, den Aufstieg des rechtsextremen Nationalismus verhindert hat, bereits regieren, den Wählern zeigen müssen, dass sie gut daran täten, ihm auch eine Parlamentsmehrheit zu geben. Es kann also auch für Frankreichs Nachbarn, insbesondere für Deutschland, nicht darum gehen, jetzt erst einmal den Ausgang der Parlamentswahlen abzuwarten, um dann zu sehen, welche Politik mit diesem Präsidenten möglich ist. Macron und seine Regierung müssen schnell Handlungsfähigkeit demonstrieren und zeigen, in welche Richtung sie das Land steuern wollen und können, wenn sie denn die nötige Mehrheit dazu erhalten. Dazu werden auch schon jetzt Signale und Initiativen aus Berlin zählen müssen, die die neue Regierung in Paris dabei unterstützen, eine Mehrheit im Parlament zu erringen.
Noch weniger können wir es uns leisten, auch noch den Ausgang der Bundestagswahl im September abzuwarten, um dann in eine neue Phase deutsch-französischer Politik zu starten. Nein, Abwarten kann nicht die Devise sein, der die deutsche Politik im Hinblick auf Frankreich jetzt folgen kann. Auch nicht wohlfeile Warnungen vor dem, was nicht geht, weil doch auch Deutschland zurzeit im Wahlkampfmodus lebt. Diesmal steht mehr auf dem Spiel, als sich „nur“ auf eine neue Konstellation in der deutsch-französischen Partnerschaft einzustellen.
Angesichts der hinlänglich bekannten globalen Herausforderungen, die aus der Entwicklung der Globalisierung, dem internationalen Terrorismus und den Kriegen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, dem Aufstieg neuer, autoritärer Großmächte und dem Zerfall des „Westens“ als demokratischer Wertegemeinschaft erwachsen, steht nicht nur die weitere Entwicklung, sondern bereits die Existenz der Europäischen Union auf dem Spiel. Mit einer Präsidentin Le Pen wäre die Union an ihr Ende gelangt. Nun aber haben Frankreich und Deutschland die Chance, vielleicht die letzte, diesem Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts Orientierung für die nächste Zukunft geben. Und zwar bald. Das können wir nur gemeinsam tun, in Abstimmung mit den anderen Partnern natürlich. Aber Paris und Berlin haben keine Zeit zu verlieren. Emmanuel Macron hat ein Mandat für eine Erneuerung der Europäischen Union, die im Zentrum seiner siegreichen Wahlkampagne gestanden hat. Dafür hat er auch in Berlin geworben, das er dafür braucht. Aber auch Berlin dürfte bewusst sein, dass es ein „Weiter so“ nicht geben darf. Jetzt muss es los gehen!