20. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2017

Indien ohne Kühe?

von Edgar Benkwitz

Die Bilder von umherstreifenden Kühen in Indiens Städten sind wohl jedem bekannt. Nach wie vor tragen sie zum vielfarbigen Image des Landes bei. Doch um die Behandlung der Kuh, die viele Hindus traditionell verehren, ist eine erbitterte Diskussion entbrannt. Hindunationalistische Kreise verstärken den Druck, ihr einen gesamtnationalen Kultstatus zu verschaffen. Sie soll allumfassend geschützt werden, einschließlich eines Verbotes der Tötung und des Verzehrs von Rindfleisch. Hingegen wendet sich ein Großteil der Gesellschaft gegen eine Politisierung der Problematik und will sich nicht vorschreiben lassen, wie er zu leben hat. Das betrifft nicht nur Angehörige anderer Religionen wie Muslime und Christen, sondern auch viele Hindus.
Auslöser der Debatte ist die Stärkung hindunationalistischer Kräfte, die durch eindrucksvolle Wahlsiege ihrer politischen Vertreter Rückenwind verspüren. Ihre Sichtweise, die im sogenannten Hindutva – dem Hindutum – gebündelt ist, soll schlussendlich auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden. Dazu gehört ein ausufernder Kult um die Kuh, der juristisch und moralisch abgesichert und verbindlich für alle Inder gemacht werden soll.
Nun ist die Verehrung der Kuh bekanntlich aus vielen Kulturen bekannt, selbst im nördlichen Teil des heutigen Deutschlands fanden in der jüngeren Steinzeit Kuhbestattungen statt. Das Rind war für gewisse Zeiten die wichtigste Stütze für den Erhalt der Gemeinschaft, denn es lieferte alles Notwendige zum Leben. Auch in Indien war das in vielen Gebieten bis in die jüngste Zeit so.
Doch auch hier schreitet die Entwicklung voran. Das Rind hat die Funktion als Lebenserhalter der Menschen verloren. Als Zug- und Arbeitstier wird es rasant durch Traktoren ersetzt. Selbst der Dung, landesweit als Brennmaterial eingesetzt, wird von Propangaskochern abgelöst. Selbst als Milchproduzent verliert die Kuh ihre einst dominierende Stellung an die effektiveren Büffel. Als Fleischlieferant agiert sie in einer Grauzone – geschätzt von Muslimen, oft verfemt von den Hindus, letztendlich aber trotz religiöser und oft staatlicher Einschränkungen toleriert. Denn Rind und Büffel spielen eine nicht unbedeutende Rolle bei der Ernährung eines Teils der Bevölkerung und im Fleischexport. Mit jährlich fünf Milliarden US-Dollar Umsatz gehört Indien weltweit zu den führenden Exportländern für Rindfleisch. Millionen von Arbeitsplätzen hängen an diesem Produktionszweig, der von den Muslimen (Schlachthöfe, Fleischereien) und den kastenlosen Dalits (Lederverarbeitung) getragen wird.
Ein Verbot der Tötung von Rindern hätte somit ernsthafte wirtschaftliche Folgen. Nicht nur die Fleischesser, darunter viele Hindus, wären die Verlierer, vor allem würden die Ärmsten der Gesellschaft – Muslime und Dalits – ihre Jobs verlieren. Sie sind es auch, die sich dann neben Andersgläubigen und -denkenden radikalen Hinduvorstellungen beugen müssten.
Doch es gibt noch weitere Bedenken. Kirit S. Parikh, Vorsitzender eines Delhier Forschungsinstituts, rechnet nämlich mit einer rasanten Zunahme des Rinderbestandes. Die Statistik wies zuletzt für 2012 180 Millionen Stück Rindvieh aus (in Deutschland sind es 12,5 Millionen). Parikh hat errechnet, dass bei einem strikten landesweiten Tötungsverbot dieser Bestand in zehn Jahren auf 360 bis 400 Millionen steigen würde, was die Ressourcen des Landes enorm belasten dürfte. Doch würde es überhaupt so weit kommen? Denn wie will man sich der zumeist produktiv genutzten Tiere bei abnehmender Leistungsfähigkeit entledigen? Nach Parikh gibt eine Kuh vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr Milch, sie lebt aber 20 – 25 Jahre. Bisher hat der Milchbauer diese Tiere nach dem zehnten Lebensjahr ausgemustert. Sie landeten zumeist auf einem Schlachthof (auch illegal) oder sie wurden einfach auf die Straße gesetzt und dort ihrem Schicksal überlassen. Bei Jungrindern zeigt die Statistik, dass die Anzahl der weiblichen die der männlichen weit übertrifft. Während die Färsen für die Milchproduktion genutzt werden, verschwinden die Jungbullen – wahrscheinlich beim Schlächter. Das dürfte es in Zukunft dann ebenfalls nicht mehr geben. Ein großes Problem für Viehhalter sind schon heute die selbst ernannten gau rakshahs – Kuhwächter –, die ein Überwachungs- und Einschüchterungssystem betreiben, das Verstöße gegen hinduistische Regeln mit drakonischen Maßnahmen ahndet.
Infolge all dessen wird die Haltung von Kühen problematisch, wenn nicht sogar gefährlich. „Die Kühe werden aus Indien verbannt werden“, so der überraschende Schluss von Parikh.
Doch gegenwärtig geben die Hindunationalisten den Ton an, wie der neue Ministerpräsident des Staates Uttar Pradesh, der Hindupriester Yogi Adidanath. Als Abgeordneter des indischen Parlaments hatte er schon vor Jahren eine Gesetzesvorlage eingebracht, die ein landesweites Schlachtverbot für Kühe forderte. Zusätzlich setzte er auf außerparlamentarische Aktionen. Mit einer von ihm geschaffenen Organisation ging er gewalttätig als „Sittenwächter“ vor, der Schutz der Kuh gehörte dazu. Ähnliche Organisationen operieren auch in anderen Teilen des Landes. Nachdem im letzten Jahr wiederholt Muslime und Dalits zu Tode geprügelt wurden, musste Premierminister Narendra Modi die aufgebrachte Stimmung in ganz Indien beruhigen, indem er diese Taten als verbrecherisch geißelte.
Jetzt hat besagter Regierungschef Yogi in seinem Staat alle illegalen Schlachthäuser und Fleischereien verboten. Die Gesetzeslage erlaubte ihm das, allerdings wird die Maßnahme als Freibrief gesehen, um auch die zugelassenen Betriebe unter Verdacht zu stellen. Einige davon sind nun Gewalttaten ausgesetzt, andere haben aus Furcht geschlossen. Die Aktionen in Uttar Pradesh beflügelten andere, von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) regierte Unionsstaaten. So verschärfte Gujarat seine ohnehin strengen Gesetze: Auf das Schlachten von Kühen wird jetzt eine 14-jährige Gefängnisstrafe verhängt. Regierungschef Rupani spricht davon, Gujarat vegetarisch zu machen und es so der angeblich hinduistischen Lebensweise weiter anzunähern. Sein Kollege Raman Singh aus dem Unionsstaat Chattisgarh spricht sogar von der Todesstrafe für das Töten von Kühen. Aus anderen Staaten ist zu hören, dass alle Fleischereien – egal welches Fleisch sie anbieten – geschlossen werden sollten.
Die liberale und aufgeschlossene indische Öffentlichkeit reagiert auf solche Äußerungen entsetzt. Die Times of India nennt sie eine „Talibanisierung des Hinduismus“. „Wir wollen nicht eine Hindu-Version von Pakistan werden“, heißt es weiter. Das Blatt warnt vor religiösen Fundamentalismus, der Konflikte und Gewalt in sich berge und die ohnehin fragile soziale Stabilität und Harmonie gefährde. Bei allem Verständnis für religiöse Traditionen mahnt die Zeitung eine Respektierung der persönlichen Freiheit sowie einen Schutz legaler Geschäftspraktiken an.
Indien ohne Kühe? Das ist kaum vorstellbar. Zu sehr ist die Kuh traditionell mit der Religion und der Lebensweise eines großen Teils der Bevölkerung verbunden. Ein nationalistisch aufgeheiztes Klima – so wie wir es gegenwärtig in einigen Gegenden des Landes erleben – könnte zwar zu einer Belebung und Verfestigung längst überholter Verhaltensweisen führen. Andererseits werden die nicht aufzuhaltende Modernisierung sowie wirtschaftliche Zwänge dem entgegenwirken. Konflikte sind allerdings vorprogrammiert. Nicht zuletzt, weil die Kuh, um die sich in den Diskussionen angeblich alles dreht, in den Plänen der Hindu-Ideologen nur Mittel zum Zweck ist – auf dem Wege zu deren Ziel, der Schaffung eines Hindustaates.
Es dürfte allerdings noch viel Wasser den Ganges herab fließen, um Indien mit seiner Vielfalt an Kulturen, Völkerschaften und Religionen eine genormte Hindu-Lebensweise zu verordnen. Vorerst wird der Besucher das traditionelle Bild in den Städten, wo Kühe den Verkehr behindern oder dem Händler das Grünzeug wegfressen, auch weiter vorfinden.