von Edgar Benkwitz
Zwei spektakuläre Ereignisse bewegten in den letzten Wochen die indische Öffentlichkeit. Bei den Landtagswahlen im Unionsstaat Uttar Pradesh, dem „Herz Indiens“, errang die in Neu Delhi regierende hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) mit 325 Mandaten (von 403) einen unerwartet hohen Sieg. Und nur wenige Tage später ernannte sie einen Hindupriester zum neuen Ministerpräsidenten (Chief Minister) diese Staates. Yogi Adityanath, 44 Jahre, Hauptpriester des großen und einflussreichen Tempels Gorakhnath, ist auch langjähriger Abgeordneter des indischen Unterhauses. Sein bisheriges Auftreten weist ihn als hinduistischen Scharfmacher aus, dessen provokante Aussagen insbesondere die muslimische Bevölkerung treffen.
Die Vorgänge in Uttar Pradesh mit seinen 220 Millionen Einwohnern zeugen von einer weiteren Festigung der Positionen hindunationalistischer Kräfte. In den 29 Unionsstaaten Indiens gibt es mittlerweile 14 BJP-Regierungen. Das sind 64 Prozent des indischen Territoriums, auf denen 54 Prozent der Gesamtbevölkerung leben. Die Beziehungen zwischen Hinduismus und Staat waren noch nie so ausgeprägt wie gegenwärtig und einen hinduistischen Geistlichen an der Spitze eines Unionsstaates gab es bisher noch nicht. Mit Misstrauen und Sorge betrachtet die Elite des Landes – zumeist weltoffen, tolerant und säkular – die Erklärung von BJP-Präsident Amit Shah, wonach der Wahlsieg in Uttar Pradesh „eine neue Richtung vorgibt und die Politik verändern wird“. Yogi Adityanath versprach sogar, das Land in Narendra Modis „Traumstaat“ umzuwandeln. Bezog er sich dabei indirekt auf seine Äußerung von 2005: „Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Uttar Pradesh und Indien in ein Hindureich verwandelt habe“?
Die hindunationalistische Propaganda trifft allerdings in Uttar Pradesh auf einen günstigen Nährboden. Der Unionsstaat, an der mittleren Gangesebene gelegen und im Norden an Nepal grenzend, ist einer der ärmsten und rückständigsten Indiens. Das pro Kopf-Einkommen beträgt nur 620 Dollar im Jahr, das ist weniger als die Hälfte des gesamtindischen Durchschnitts. Dafür ist die Verbrechensrate doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Der Mangel an Arbeitsplätzen lässt viele Einheimische in die Ballungszentren Indiens abwandern. Fast kurios – aber die Lage treffend charakterisierend – war es, als auf eine Ausschreibung der Landesregierung für 400 Botenstellen 2,3 Millionen Bewerbungen eingingen.
Nicht zu Unrecht macht die BJP die bisherigen Regierungen Uttar Pradeshs als die Hauptschuldigen für diese Verhältnisse verantwortlich. In den letzten beiden Jahrzehnten wechselten sich die Politikerin Mayawati sowie Vater und Sohn Yadav mit ihren regionalen Parteien bei der Machtausübung immer wieder ab. Sie wirtschafteten dabei kräftig in die eigenen Taschen und ließen das Land verlottern.
Die Wahl von Frau Mayawati aus der Dalit-Gemeinde zur Ministerpräsidentin war 1995 ein „Wunder der Demokratie“ genannt worden. Die „Königin der Unberührbaren“ bekleidete dieses Amt neun Jahre – und wurde dabei zur vielfachen Millionärin. Ihre Vermögensaufstellung für die Wahl ins indische Oberhaus weist umgerechnet 22 Millionen US-Dollar aus, darunter vier Immobilien in Spitzenlagen in Neu Delhi sowie größere Mengen an Gold, Juwelen und Diamanten.
Mulayam Singh Yadav, sieben Jahre als Ministerpräsident tätig, jetzt Abgeordneter des indischen Unterhauses, gibt als Vermögen „nur“ zweieinhalb Millionen US-Dollar an. Er regelte, dass sein Sohn Akilesh bei den Wahlen 2012 sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten wurde. Mit den Yadavs zog im Unionsstaat die Rechtsunsicherheit ein, mafiöse Strukturen entstanden, Verbrechen nahmen überhand.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Wähler Veränderungen wollten. Die bot die BJP an, vor allem mit ihrem Zugpferd Narendra Modi, Indiens derzeitigem Premierminister, der bei seinen Wahlauftritten wie ein Messias empfangen wurde. Thema seiner Reden war immer nur die Entwicklung des Unionsstaates, verbunden mit einer effektiven und guten Regierungsarbeit. „Geht es Uttar Pradesh gut, dann geht es auch Indien gut“, war einer seiner eingehenden Slogans. Modi, der aus einfachen Verhältnissen stammt, wird von vielen als einer der ihren betrachtet. Zusätzliche Popularität erfuhr er durch die vor kurzem erfolgte Umtauschaktion hoher Banknoten, die als erfolgreicher Schlag gegen Schwarzgeld und Korruption gesehen wird.
Ihren Wahlkampf bestritt die BJP unter anderem mit der Behauptung, dass ihre Entwicklungsstrategie Kasten- und Religionszugehörigkeit in den Hintergrund dränge. Doch sie verschwieg dabei bewusst, dass sie gezielt auf die Hindumehrheit im Unionsstaat setzte. So wurde nicht ein einziger Muslim als Kandidat aufgestellt, was bei Wahlen in anderen Staaten durchaus geschah. Da die Opposition versagte, ist der Anteil muslimischer Abgeordneter im Vergleich zur letzten Wahl von 17,1 auf 5,9 Prozent gefallen – insgesamt ist die muslimische Minderheit nur noch mit 24 Abgeordneten vertreten. Und das bei einem Bevölkerungsanteil von 19 Prozent! Auch das zeugt vom Vormarsch des Hindunationalismus, denn so werden Minderheiten und Andersdenkende ausgegrenzt.
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich schon im Unionsstaat Gujarat, wo Narendra Modi über zehn Jahre Ministerpräsident war. Die ehemals homogene Gesellschaft ist jetzt geteilt, ihr muslimischer Anteil lebt für sich in abgesonderten Wohnbezirken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in Uttar Pradesh ein weiterer Versuch unternommen wird, Hindutva, das Hindutum, zur Grundlage der Lebensweise und des staatlichen Handelns zu machen. Damit soll gezeigt werden, dass nur kraft der hinduistischen Religion und Lebensweise die Entwicklung vorangebracht werden kann – im Gegensatz zu den sogenannten säkularen Parteien.
Yogi Adityanath, stets in safranfarbene Gewänder gekleidet, ist offensichtlich die passende Person für dieses Vorhaben. In der ersten Woche seiner Amtszeit traf er bereits fünfzig Entscheidungen. So müssen seine Minister sowie die Spitzenbeamten innerhalb von 15 Tagen ihr Vermögen offenlegen. Das Rauchen, Kauen von Betel und der Gebrauch von Plastikgefäßen in der Verwaltung ist untersagt. Mehrfach besuchte er Polizeistationen und drohte mit harten Strafen bei Korruption und Zusammenarbeit mit Kriminellen. Recht, Ordnung, Disziplin und Hygiene – diese Sofortmaßnahmen hören sich recht gut an. Doch schon die nächste Anordnung, alle illegalen Schlachthäuser und Fleischereien zu schließen – betroffen sind 140 große und 50.000 kleinere Betriebe – wirkt kontrovers. Aus hygienischen Gründen sollte das eigentlich schon vor Jahren geschehen, wurde aber verschleppt. Jetzt nutzen hinduistische Eiferer die neue politische Lage, um die gesamte Fleischindustrie mit ihrem Bann zu belegen, da Muslime angeblich auch Kühe schlachten.
Es bleibt abzuwarten, wie der neue Ministerpräsident auf eine weitere Radikalisierung des Hinduismus reagiert. Er selbst hat vor Jahren dazu kräftig beigetragen, wegen Volksverhetzung musste er sich mehrmals gerichtlichen Verfahren stellen.
Zusammenstöße zwischen religiösen Gruppierungen wären allerdings das letzte, was die Führung der BJP und die hinter ihr stehende einflussreiche „Nationale Freiwilligenorganisation“ (RSS) – Kaderschmiede und ideologische Vorhut des Hindutums – jetzt brauchen. Die RSS hat bei ihrem erklärten Ziel, der Hinduisierung der indischen Gesellschaft, einen langen Atem. Vorerst muss ihr politischer Arm, die BJP, wieder die in zwei Jahren stattfindenden Parlamentswahlen gewinnen, und da spielt Uttar Pradesh mit seinen 80 Unterhausmandaten eine entscheidende Rolle. Ersten Äußerungen ist zu entnehmen, dass das Jahr 2022 – der 75. Jahrestag des unabhängigen Indien – in den Plänen der Hindustrategen eine große Rolle spielt. Premierminister Modi sprach wiederholt von einem neuen Indien, das bis dahin Gestalt annehmen soll.
Wie wird es aussehen, das neue Indien?
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Hindustaat, Indien