von Ralf Schenk
Ende März 2007 schickt der damalige Bundespräsident Horst Köhler einen Brief an Egon Günther. Dessen Filme und Romane, so schreibt er, „klären auf, wecken die Lust am Lesen und Zuschauen“. Günthers Werk zeuge „von feiner Beobachtungsgabe und einer hohen Sensibilität für das Schicksal von Menschen“. Das war gut und richtig, ein angemessen schöner Glückwunsch zum 80. Geburtstag Nun sind wir schon wieder zehn Jahre weiter, Egon Günther wird heute 90, kaum zu glauben, ein biblisches Alter.
Vermutlich wird er es in seinem blauen Jeansanzug feiern. Den hat er ein Leben lang immer getragen, im Atelier, bei Premieren, auf Festivals und hoch zu ross. Ja, Egon Günther war, neben allem anderen, auch ein begeisterter Pferdefreund und Reiter. Das hielt seinen Körper und Geist lange straff. Sogar vor der Kamera stieg er, wenn die Möglichkeit bestand, in den Sattel, so wie in seinem Film „Morenga“ von 1984, in dem er die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika sarkastisch unter die Lupe nahm und in dem er einen Kolonialoffizier spielte.
Egon Günther kommt aus Schneeberg, aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater war Motorenschlosser, auch der Sohn wird Schlosser. Dann Technischer Zeichner im Maschinenbau, dann Soldat. Das ist 1944, er lernt den Krieg hassen. Später wird er diesen Hass zum Thema einiger seiner Filme machen, in „Erziehung vor Verdun“ etwa, 1974 nach Arnold Zweig entstanden. Nach dem Krieg darf er studieren, Pädagogik, Germanistik, Philosophie in Leipzig. Er hört bei Ernst Bloch und Hans Mayer, die Vertreibung der kritischen Gelehrten aus der DDR findet erst später statt.
Noch eine ganze Weile glaubt Egon Günther an die neue, bessere Gesellschaft, den Versuch einer gerechten Welt. Er ist sich da sehr einig mit anderen jungen Intellektuellen: Mit Reiner Kunze zum Beispiel veröffentlicht er 1956 einen Gedichtband mit dem vielsagenden Titel „Die Zukunft sitzt am Tische“.
In „Flandrisches Finale“, seinem ersten Roman, porträtiert er einen jungen Adligen, der sich, vor dem Hintergrund der Napoleonischen Besatzung, von seiner Klasse löst und tragisch zugrunde geht. Ein Gesellschaftspanorama, das Aufbegehren der Söhne gegen die Väter, ein Thema, das er 1968 in dem Film .Abschied“ nach der literarischen Vorlage von Johannes R. Becher erneut aufnimmt. Günther plädiert für die Veränderung erstarrter Verhältnisse. Und er verändert selbst. Als er 1958 von der Defa als Dramaturg engagiert wird, erlebt er das Studio in der Krise. Schematische Filme, dazu eine altbackene Stilistik. Er findet Gleichgesinnte, die dem DDR-Film frische Luft verschaffen wollen: Regisseure, Autoren, staatliche Leiter. Nachdem er selbst Regisseur geworden ist, eröffnet er seinen Darstellern, allen voran Jutta Hoffmann, ungeahnte spielerische Freiräume. Er ermuntert seine Kameramänner, das Licht anders zu setzen als gewohnt, andere Fahrten zu wagen, andere Schwenks. Seine Fantasie wirkt inspirierend. Manchmal wird er ausgebremst, politisch.
Für das Erwachsenenmärchen „Wenn du groß bist, lieber Adam“ schreibt er 1966 gemeinsam mit Helga Schütz eine Szene ins Drehbuch, in der ein kleiner Junge seine Taschenlampe auf eine Kompanie der Volksarmee richtet. Das Licht der Zauberlampe bewirkt, dass Lügner sichtbar werden: Wer schwindelt, der erhebt sich in die Lüfte. Die Soldaten werden beim Treueeid angestrahlt. Und schweben. Die Szene darf nicht gedreht werden. Dann wird der ganze Film verboten.
Es ist nicht das einzige Mal, dass Günther Ärger bekommt. Zur Premiere von „Abschied“ verlassen Walter und Lotte Ulbricht das Kino bereits nach dem Vorprogramm; sie verweigern sich der satirischen Auslegung des Romans. Bei „Der Dritte“ protestiert der Demokratische Frauenbund; eine Szene, in der sich zwei Frauen liebkosen, geht ihm gegen die Moral. „Die Schlüssel“ missfällt den polnischen Nachbarn, die ihr Land falsch dargestellt sehen. Noch reagiert Günther lakonisch auf die Verdikte: Ärger gehört zum Beruf; wer niemanden aufregt, regt auch niemanden an.
Außerdem darf er ja kontinuierlich weiterdrehen, sogar solche Frestigeprojekte wie 1975 „Lotte in Weimar“ mit Lilli Palmer. Schwierig wird es drei Jahre darauf nach „Ursula“, einer Koproduktion zwischen dem DDR-Fernsehen und der Schweiz, die auf beiden Seiten wegen „fäkalischem“ Naturalismus in Ungnade fällt. Unverfroren ist die Entscheidung des Defa-Generaldirektors Hans Dieter Made, dass die Arbeitsbeziehung zwischen Egon Günther und Jutta Hoffmann nicht mehr weitergeführt werden darf. Anlass: Ein Filmentwurf, der „Auf deutsch“ heißt und ohne fertiges Drehbuch, frei improvisiert, umgesetzt werden soll.
Egon Günther arbeitet dann im Westen. Nicht jeder seiner Filme wird mehr zum Ereignis. Als er 1990 zur Defa zurückkehrt, um „Stein“ zu inszenieren, die Parabel auf einen Künstler, der sich der Gesellschaft verweigert und in seinem Schneckenhaus verrückt wird, sind sie alle wieder da, die Kollegen von früher. Jeder will an der Seite des freundlichen, hoch geschätzten Regisseurs sein. Eine triumphale Rückkehr an die Wurzeln, kurz bevor sie, von den neuen Eigentümern in Babelsberg, ganz ausgerissen werden.
Sein letzter Kinofilm ist 1990 „Die Braut“, über Goethes Frau Christiane Vulpius. Ich war damals bei den Dreharbeiten und sehe noch heute, wie Egon Günther am Drehort, einem Park bei Potsdam, seinen Arm um die Hüfte der Hauptdarstellerin Veronica Ferres legt, mit ihr über die grünen Wiesen spaziert und ihr seine Wünsche für die nächste Szene vermittelt. Ein zärtlicher Moment, ein Schweben. Die Ferres war nie so gut wie in diesem Film, vorher nicht und nicht danach. Das hatte mit dem Zauber dieses Augenblicks zu tun. Und ganz sicher mit dem Zauberer Egon Günther.
Berliner Zeitung, 30.03.2017. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
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