von Detlef Puhl
Die französischen Citoyens leben in spannenden Zeiten, wenn man es positiv sehen will. Noch nie wussten gut vier Wochen vor dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 23. April so viele Wähler nicht, wo sie ihr Kreuzchen machen oder ob sie überhaupt zur Wahl gehen sollen. Und noch immer geht es, anders als sonst, diesmal schon im ersten Wahlgang um die Wurst – nämlich darum, wer im zweiten Wahlgang am 7. Mai gegen Marine Le Pen antreten darf, die Führerin des rechtsextremen Front National, die seit Monaten in allen Umfragen, wenn auch knapp, führt (und jetzt erstmals auf die zweite Position abgerutscht ist). Kein Wunder, dass sich am 21. März knapp zehn Millionen Zuschauer Zeit für die erste von drei Fernsehdebatten der fünf aussichtsreichen Kandidaten genommen haben – etwa dreieinhalb Stunden! Bis weit nach Mitternacht!
Das hatte es zuvor noch nie gegeben. Der erste Wahlgang war bisher immer nur Vorspiel, in dem man für den Kandidaten stimmen konnte, der einem am Herzen lag. Erst im zweiten Wahlgang, der Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten, musste man den Kopf einschalten und den „vote utile“ abgeben, die „nützliche Stimme“. Aber diesmal ist alles anders.
Ein Vergleich mit Österreich drängt sich auf. Dort hatten die Wähler bei der Bundespräsidentenwahl die Kandidaten der klassischen Parteien gleich im ersten Wahlgang aus dem Rennen geworfen. Danach blieb ihnen die Wahl zwischen einem Rechtsextremen und einem Unabhängigen, der einmal Vorsitzender der Grünen war. Etwas ähnliches könnte nun auch in Frankreich passieren: eine Stichwahl zwischen der Rechtsextremen Le Pen und Emmanuel Macron, einem Unabhängigen, der in diesem Fall Minister der noch amtierenden sozialistischen Regierung war, diese aber im Streit verlassen und eine eigene politische Bewegung gegründet hat. Die Parteien der klassischen Rechten und Linken hinken hinterher.
Sie hatten es geschafft, sich auf dem Wege über „offene Vorwahlen“ praktisch selbst aus dem Spiel zu nehmen. Per Unterschrift unter eine allgemeine politische Unterstützungsformel und Abgabe eines Obolus von zwei beziehungsweise einem Euro konnte jeder Wahlberechtigte an der Auswahl der Kandidaten für die höchste Führungsposition im Lande teilnehmen. Das Resultat: Die Parteiführungen mussten sich den Siegern der Vorwahlen beugen, und die Wähler hatten nicht die Favoriten der Parteien erkoren, sondern die Aufmüpfigen, diejenigen, die sich den Favoriten der Parteien in den Weg stellten. Zufall? Oder Taktik der Oberschlauen, die als vermeintliche Sympathisanten die aussichtsreicheren Kandidaten der jeweils anderen aus dem Rennen kegeln wollten?
Bei den Vorwahlen der Rechten und des Zentrums, dominiert von den Republikanern, der noch von Nicolas Sarkozy geschaffenen Nachfolgeorganisation seiner einstigen „Mehrheitsunion“, bestimmten etwa vier Millionen Wähler, wer Kandidat sein soll. Sarkozy selbst fiel schon im ersten Wahlgang durch. In der Stichwahl machte Francois Fillon das Rennen, der in den Umfragen über Monate praktisch aussichtslos weit abgeschlagen hinter Alain Juppé und Sarkozy auf dem dritten Platz gelegen hatte. Nun machte er sich gleich daran, den Parteiapparat der Republikaner zu übernehmen und zu verkünden, dass er aber nicht der Kandidat einer Partei sei, sondern „der Rechten und des Zentrums“.
Dumm nur, dass ihn nach „Penelopegate“ und einem am 14. März von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder (ihm wird unter anderem vorgeworfen, seine Frau Penelope und zwei seiner Kinder über Jahre als parlamentarische Hilfskräfte scheinbeschäftigt zu haben) führende Leute seines Wahlkampfteams verließen. Er musste treue Anhänger von Sarkozy an Bord holen, um im Rennen bleiben zu können. Fillon hält sich also, auch wenn die Unterstützung seiner politischen Freunde verhalten und oft nur dem Umstand geschuldet ist, dass sich ein neuer Kandidat so schnell nicht finden ließ. Aber für die Wahl, die die Republikaner eigentlich nicht verlieren konnten, könnte es schwarz aussehen. Seit Wochen schon liegt Fillon bei den Umfragen für den ersten Wahlgang an dritter Stelle, mit absteigender Tendenz. Zuletzt bei 17 Prozent.
Bei den Linken läuft es nicht besser. An den Vorwahlen der „Volksallianz“, dominiert von den regierenden Sozialisten, nahmen nur knapp zwei Millionen Wähler teil, die den „frondeur“, den Abweichler der Sozialisten Benoît Hamon auf den Schild hoben und nicht den bis dahin favorisierten Manuel Valls, der bis zu seiner Kandidatur Regierungschef war. Dieser und andere prominente Sozialisten verweigern dem offiziellen Kandidaten ihrer Partei jetzt ihre Unterstützung; andere stellen sich offen auf die Seite Macrons. Jean-Luc Mélenchon, der einstige Sozialist und jetzt Kandidat einer unabhängigen Linken, hat erst gar nicht an der Vorwahl teilgenommen. Beide, Hamon und Mélenchon, teilen in vielen Fragen ähnliche Positionen. Aber Hamon, der nach seinem Vorwahlsieg die gesamte Linke einen wollte, ist es nicht gelungen, deren Spaltung in diesem Wahlkampf zu überwinden. Im Gegenteil: Lag Hamon in den vergangenen Wochen in den Umfragen stets vor Mélenchon (meist 13 zu 12 Prozent) und versuchte, ihn zum Verzicht zu seinen Gunsten zu bewegen, hat sich dies seit der Fernsehdebatte geändert. Nun liegt Mélenchon bei 13,5 und Hamon ist auf 11,5 Prozent abgesackt. Beide sind ohne jede Chance, in die Stichwahl zu gelangen, wenn sie sich nicht doch noch in letzter Minute zusammentun.
Wenn nicht noch ein (Wahl)wunder geschieht, werden sich wohl beide Parteien, Sozialisten wie Republikaner, klassische Linke wie klassische Rechte, nach dem 7. Mai neu aufstellen müssen. Spannend wird sein, ob und inwieweit ihnen dies schon zur Parlamentswahl am 11. und 18. Juni gelingen wird. Da könnten, ja müssten sie erst recht um Einfluss kämpfen, denn auch ein französischer Präsident ist ohne Parlamentsmehrheit machtlos.
Hier liegt auch die Schwäche der verbliebenen Favoriten, Macron und Le Pen. Alle Umfragen gehen davon aus, dass Le Pen die Stichwahl verlieren wird. Schon jetzt sind ihre Werte von 26-27 auf 24,5 Prozent gesunken; und damit liegt sie erstmals hinter Macron, der sich von 23 auf inzwischen 26 Prozent verbessern konnte. Aber keiner der beiden kann sich einer Mehrheit im Parlament sicher sein.
Selbst wenn Le Pen tatsächlich Präsidentin würde – eine Parlamentsmehrheit ihres Front National hat niemand auf dem Schirm, scheint völlig ausgeschlossen. Und noch gibt es keine politische Formation, mit der sich Le Pen verbünden könnte.
Aber auch Macron hat keine eigene parlamentarische Basis. Seine Bewegung „En Marche!“ hat zwar damit begonnen, Kandidaten für das Parlament aufzustellen. An Bewerbern mangelt es wohl nicht. Er hat auch schon das Ziel „absolute Mehrheit“ ausgegeben. Aber wie das funktionieren soll, ist vorerst schleierhaft. Viele setzen auf eine Art Siegesdynamik nach dem 7. Mai. Aber ob das gelingt? Derzeit bekommt er Unterstützung von Abgeordneten der Sozialisten und von der zentristischen Partei Mouvement des Démocrates (MoDem) von Francois Bayrou. Die Sozialisten unter seinen Unterstützern werden sich allerdings entscheiden müssen, wohin sie gehören wollen und in welcher Formation ihre Chancen liegen, ihren Wahlkreis zu gewinnen. Macron umwirbt auch Anhänger von Juppé unter den Republikanern, die sich eher in der Mitte verorten und mit dem streng konservativen Kurs Fillons nicht anfreunden können.
Allerdings will Macron auch darauf achten, dass seine Bewegung nicht zu einem „Gästehaus für Unzufriedene“ anderer Parteien wird. Aber was heißt das? Er wird sich seine Unterstützer aussuchen wollen und müssen, dabei aber nicht allzu wählerisch sein können. Bisher ist der Wahlkampf von vielen Überraschungen geprägt. Eine davon ist, dass Macron jetzt tatsächlich Favorit ist. Das wäre nicht schlecht für Frankreich, nicht schlecht für Europa und damit auch für Deutschland. Aber noch sind es vier Wochen hin – viel Zeit für neue Überraschungen.
Schlagwörter: Detlef Puhl, Emmanuel Macron, Frankreich, Marine Le Pen, Präsidentenwahl