von Eckhard Mieder
Der Westen geht unter. Die Wertegemeinschaft (eine Gemeinschaft von Werten, oha, oho!) zerbröselt. Vor unseren Augen versinkt Europa, und ich habe keine Planke, an der ich mich festhalten kann. Ergo gehe ich unter. Mit unter, mitunter: jetzt gleich. Doch, doch. Die Werte halten mich nicht, weil ich sie nicht hochhalte? Ich bin mitschuldig am Untergang. (Ich sag jetzt mal nicht den einsilbigen Namen des Unaussprechlichen in den USA; der geht mir letztlich, und vielleicht bin ich zu leichtsinnig, am … vorbei.)
Wohin gehe ich dann und also? Zurück in die Barbarei? In eine Diktatur? Etwa in die, aus der ich, sagt die Geschichtsschreibung, kam? Oder in eine noch schlimmere, die vor der Diktatur war, in die Prädiktatur? Und welche gab es vor der? Die der Feudalherren (-damen)? Die der römischen Kaiser, die zwar ein Rechtswesen, aber doch ihr Recht vor allem und vor allen anderen hatten?
Oder kehre ich ins Reich der Ameisen und Kiefern zurück? Oder ins Urmeer; schon bilden sich meine Wangen zu Kiemen um, meine Nase schrumpft, die Luft wird knapp. Gleich bin ich Bakterium unter Bakterien.
Es muss ein schreckliches Terrain sein, auf das ich mit einem Seil gezogen werde wie ein Kalb aus der Mutterkuh. Wenn der Westen untergeht. Ich werde ein paar Bücher mitnehmen. Falls die Zeit reicht und es erlaubt ist. Und einige Fotos. Um mich, wenn ich dann ins All (schon immer ein Gulag der eisigsten Art) gestoßen bin und um den Planeten kreise wie Müll, ein bisschen erinnern zu können. An Mama und Papa. An die Töchter und an das Eheweib. An die Wanderungen durch Eifel und Lappland, durch Island und Kuba, durch Taunus und Hardangervidda. Als wir noch wanderten, bevor der Westen unterging. (Hübscher Titel für ein Buch: „Als wir noch wanderten, bevor der Westen unterging.“ Untertitel: „Überlegungen vor dem letzten Glas, das mir im Dunkel der Apokalypse aus der Hand rutschte“.)
Mal ehrlich, Gesellen meiner Gegenwart und knappen Zukunft: Was geht grad oder seit einiger Zeit oder seit langem unter? Europa? Die Welt? Ich bin nicht so leichtsinnig und dämlich, es nicht für möglich zu halten. Wir basteln dran, ist schon klar. Wir sägen wie verrückt an dem planetarischen Ast, an dem wir Fleißtiere schaukeln. Irgendwie kriegen wir ihn nicht durch; irgendwie fallen wir nicht. Keine Ahnung, warum nicht, keine Ahnung, wann doch. Wenn dann doch; verdient hätten wir es, so dumm wie wir uns auf der Erde verhalten; als käme immer noch ein Morgen.
Aber mal ganz ehrlich, Kameraden und Genossen meiner knappen Gegenwart und unendlichen Zukunft: Was geht nun unter?
Neulich las ich, dass etwa drei Millionen Schiffe als Wracks in den Ozeanen und Meeren liegen. Das ist mal eine Ansage, das ist mal ein Fakt (wenn auch nur eine geschätzte Zahl). Damit kann ich was anfangen, das kann ich mir vorstellen. Inklusive der Menschen, die ertranken.
Ich war auf etlichen Seen und Meeren unterwegs, ich spürte stets das bisschen Material Holz oder Stahl zwischen mir und der Tiefe. Ich fühlte dieses Bisschen, diese paar Zentimeter Wand zwischen Leben und Tod. Ich hatte das Gefühl, ein Passant zu sein. Nicht nur auf der Fährstrecke, sondern sowieso auf dem Lebensweg, dessen Ende hinter jeder Ecke, in jeder Kurve möglich ist. Peng und aus, liebe Freundinnen und Freunde. Weiß doch jede und jeder, dass der Untergang nur Sekunden und Millimeter entfernt ist. Immer.
Aber der Untergang des Westens ist ein dramatischer Vorgang. Niemand (aus dem Westen) möchte ihn erleben. Ich auch nicht. Mir geht’s zu gut. Scheiße aber auch.
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Untergang, Wertegemeinschaft