19. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2016

Aus dem Zirkus Leben

von Horst Drescher

Sensible Zeiten
Zu gewissen Zeiten kann man nicht mal verdrossen im Regen stehen, ohne sofort scharf gefragt zu werden, was man damit sagen will.

Sprachfähigkeit
Die Sprache hat eine erstaunliche Fähigkeit zu erzählen. Als Stalin die Schriftsteller „Ingenieure der menschlichen Seele“ genannt hat, da hat sie erstaunlich viel über ihn erzählt.

Tip (II)
Wenn man in Form ist, sollte man nicht gackern, sondern Eier legen.

Über Menschenkenntnis
Man sollte es gar nicht für möglich halten, wie viele Fehler ein Mensch hat, der in Schwierigkeiten geraten ist. Man war vorher wie blind.

Unbefangene Sicht
Der schöne Begriff „Gehirnwäsche“ ist auch den Sprach-Pessimisten überlassen worden. Man tut ja gerade so, als ob alles, was wir im Kopfe haben, uns von der Mutter Weisheit persönlich eingetrichtert worden wäre!

Unbemerkte Denunziationen
Wie viele Generationen kleiner Leute haben ihren Willen unter den Willen Mächtiger gebeugt, bis sie das Wort „eigensinnig“ als Schimpfwort verwendet haben.

Unsere Zeit und wir
Ich lese bei Brecht: „Wir Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters …“ Also das sollte uns nicht so völlig entmutigen. Erstens kann sich keine Generation ihr Zeitalter aussuchen. Und dann kommt es ja immer noch darauf an, was wir daraus machen!

Verbien und Adverbien
Wenn der Mensch nur zeitig genug zu ahnen vermöchte, was er später wird alles aushalten können müssen, er würde vermutlich irgendwann recht früh schon gar nicht mehr wollen können.

Vergleich (II)
Solange wir uns bemühen, die derzeit vom Duden vorgeschriebenen Sprachregelungen zu befolgen, solange sollten wir auch nicht gegen abstrakte Kunst sein.

Vertrauen
Bedenkt man das Wort „Vertrauen“ in der Redensart „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ eine Weile, dann bemerkt man, daß da eigentlich Vertrauen gar nicht gemeint ist; gemeint ist da mehr eine auf vorausgesetzter Korrektheit basierende zeitweilige Nichtkontrolle. Und da ist Kontrolle natürlich besser.

Weisheiten Salomonis
Über den Spruch des Königs Salomo, daß da nichts Neues geschehe unter der Sonne, über diesen Spruch kann man sein ganzes Leben lang lächeln. Aber man lächelt in der zweiten Lebenshälfte aus anderen Gründen als in der ersten Lebenshälfte.

Wörter
Das Wort „totschweigen“ ist eine der mörderischsten Vokabeln. Es ist übrigens ein Tätigkeitswort.

Auswahl aus: Horst Drescher: Aus dem Zirkus Leben. Notizen 1969 – 1986. Edition Neue Texte, Aufbau-Verlag, Berlin 1987.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Rechtschreibung des Originals wurde beibehalten.