von Horst Drescher
Divergenzen
Es scheint mehrere Sorten Schlamperei zu geben, denn wienerisch ist unsere nicht.
Duden-Lektüre
§ 452: „Der Strichpunkt trennt stärker als der Beistrich, aber nicht so entschieden wie der Punkt. Diese Zwitterstellung hat zur Folge, daß man für seine Anwendung nur Richtlinien, keine strengen Regeln geben kann.“
Nur Richtlinien? Keine strengen Regeln? Na, es ist ja noch nicht aller Tage Abend.
Eben
Kein Mensch ist ein kompletter Schurke; und eben das macht den Umgang mit den fast kompletten so problematisch.
Echt echt
Ein „wirkliches Vertrauensverhältnis“, das klingt mir wie „garantiert echtes Leder“. Man fragt sich unwillkürlich: Na, was stimmt denn da nicht so ganz?
Ehe die Rechtschreibereform kommt
Lebensbejahung ist etwas Wunderbares; wenn es nur kein Optimismuß ist.
Ein paar Leute
Mein Bekanntheitsgrad ist nicht sehr groß in diesem Lande; ein paar Leute gibt es, die reden von mir als einem „Geheimtip“.
Und dazu gibt’s noch ein paar Leute, die sorgen dafür, daß dies auch so bleibt.
Eine Problematik
Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob man die Irrtümer seiner Epoche halbiert oder verdoppelt, wenn man sie teilt.
Eingestandenermaßen
In den durch und durch erlogenen Verleumdungen treffen einen doch nur die Wahrheiten. Uneingestandener-maßen.
Elite
Ein guter Mann nutzt auch die Chance, die man ihm verweigert.
Emanzipation
Wie haben wir einst geschmunzelt über das Bonmot: Sie schlafen miteinander, mehr ist da nicht zwischen ihnen.
Nun sehe ich die Ratlosigkeit in den Gesichtern junger Leute. Sie fragen sich, wo da eine Pointe sein soll.
Etwas Religionsunterricht
Da man auch als Atheist weiß, daß Gott immer auf seiten der stärkeren Bataillone ist, da heißt es eben bei der Bataille das stärkere Bataillon sein. Um nicht gläubig werden zu müssen.
Etwas Syntax
Also bei der Bemerkung einer früheren aufgeklärten absolutistischen Feudalherrschaft in Preußen, da bezog sich übrigens bei der Bemerkung „die Leute sollten nach ihrer Facon selig werden“, also da bezog sich das Personalpronomen auf die Untertanen.
Feststellung (II)
Seit Brechts „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ Pflichtlektüre in unseren Schullesebüchern geworden ist, sind es schätzungsweise zehn geworden.
Forderung
Taugt die Zeit nichts, dann genügt es eben nicht, auf der Höhe seiner Zeit zu sein. Dann wird mehr verlangt.
Gehaltsklassen
Wenn einer, der etwas weiß, tausend Mark verdient, so verdient der, der es besser weiß, manchmal zweitausend. Und es ist durchaus nicht immer nötig, daß er etwas weiß.
Guter Rat
In einem voll durchzentralisierten Staatswesen sollte man den Begriff „unproduktive Arbeitskraft“ vorsichtshalber gar nicht verwenden. Jedenfalls nicht im abwertenden Sinne.
Hans Fallada
Dieser Rudolf Ditzen war 21 Jahre alt, als der erste Weltkrieg ausbrach, und gestorben ist er 20 Monate nach dem Ende des zweiten Weltkrieges.
Und da haben manche die Stirn, seinen Lebensweg chaotisch zu nennen und den Mann charakterschwach! Ich sehe nur, daß er ein Mensch war, ein seiner Zeit aufgeschlossener Mensch. Und ich bewundere seinen Fleiß, seine maßlose Disziplin und seine erstaunliche Würde gegenüber seiner Zeit. Ich achte sein menschliches Format, das ihm gestattete, in einer solchen Zeit ein solches Werk zu schaffen.
Wird fortgesetzt.
Auswahl aus: Horst Drescher – Aus dem Zirkus Leben. Notizen 1969 – 1986, Edition Neue Texte, Aufbau-Verlag, Berlin 1987.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Rechtschreibung des Originals wurde beibehalten.
Schlagwörter: Aphorismen, Horst Drescher