19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Aus dem Zirkus Leben

von Horst Drescher

Achtgeben
Man darf sich nicht so ins Leben versticken lassen, daß man als Faden gar nicht mehr aufzufinden ist im allgemeinen Gewebe.

Adverbienkunde
Das ist immer die bitterste Variante, wenn man feststellen muß: Umsonst war es nicht, aber vergeblich.

Am nächsten Vormittag
Wenn die Ernüchterung kommt, reagieren die mit dem Kater leicht gereizt gegenüber allen, die nicht mitgesoffen haben.

Anschlag
Wer in der DDR Dramatik schreibt, und er ist nicht sehr klug, der ist sehr dumm.

Anstand unterwegs
Moralisten dürfen nicht glauben, daß schon viel gewonnen sei, wenn sie klar gemacht haben, daß etwas eine Schande ist für alle. Sie müssen nun auch noch einen finden, der sich schämt.

Auf den ersten Blick
Rein intellektuell Gebildete haben oft so schrecklich recht; wie Alkoholiker oft so schrecklich gesund aussehen.

Aufklärung
Am Tage unserer Geburt sollte uns eine Stimme sagen: Von nun an kann alles, was du sagst, gegen dich verwendet werden.

Aus dem Fremdwörterbuch (l)
„Charakter: Gesamtheit der wesentl., relativ konstanten Eigenschaften eines Menschen.“
Und ich dachte immer, da würde etwas verlangt!

Aus dem Zirkus Leben
Man hält es nicht für möglich, auf wie viele Arten und Weisen dem Menschen die Hände gebunden sein können. Und wie wenige haben das Zeug zum Entfesselungskünstler.

Aus einem alten Jahrmarktbüchel
„Wer bey Hof entweder die Gnade des Fürsten erstlich erwerben oder die mit Mühe und Kummer erworbene Gnade nicht wieder verlieren will, der muß jederzeit reden, was der Fürst gerne höret, und thun, was ihm gefället, sonsten bekömmt er zum erstenmal ein saures Gesicht, zum andern harte Worte und zum drittenmal den Abschied.“
Was haben wir darüber gelacht an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, nein, haben wir darüber gelacht!

Auskunft
Der Unterton, den das Urteil „Ein guter Mensch“ unter lebenstüchtigen Menschen hat, erzählt uns allerlei über den Zustand der Welt, in der wir leben.

Begriffsläuterung
Seit Schiller seinen Ausspruch zu Goethe getan hat, Genie sei sich immer selbst das größte Geheimnis, seitdem haben alle Wirrköpfe den freudigen Verdacht, auch eins zu sein.

Beiläufig
Der kernige Spruch: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne!“ stammt übrigens von den Tischlern, nicht vom Holz.

Beitrag zum Lutherjahr
Sobald man allzu überzeugt worden ist, daß der Untergang der Welt unmittelbar bevorsteht, empfiehlt es sich, dem Beispiel Martin Luthers zu folgen und ein Bäumchen zu pflanzen.
Zum einen lenkt es vom Weltuntergehen ab, und zum andern hat man in zehn, fünfzehn Jahren reichlich Äpfel. Falls man ein Apfelbäumchen gepflanzt hat.

Bemerkt man
Bemerkt man, daß der Schöpfer in die Porzellanerde gegriffen hat bei einem statt in den Lehm, dann ist es natürlich schon zu spät. Dann heißt es nur noch die Zähne zusammenbeißen für die restlichen Jahrzehnte.

Wird fortgesetzt.

Horst Drescher – Aus dem Zirkus Leben. Notizen 1969 – 1986, Edition Neue Texte, Aufbau-Verlag, Berlin 1987. Auswahl: Alfons Markuske, Das Blättchen.
Die Orthographie des Originals wurde beibehalten.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.