19. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2016

Neun Morde – eine Routine

von Christian Bommarius

Nichts ist sicher, nur die gespens­tische Debatte um die Sicher­heit, die unvermeidlich nach jedem aufsehenerregenden Verbrechen den öffentlichen Raum konta­miniert. Nachdem klar ist, dass in Mün­chen kein Terroranschlag stattgefunden hat, nachdem klar ist, dass keine islamisti­schen Mordschützen neun Menschen ge­tötet haben, sondern ein verwirrter Amok­läufer Rache an der Welt und an der Menschheit genommen hat, nachdem auch klar ist, dass die Polizei vorbildlich gearbeitet und alles Menschenmögliche getan hat, um den Täter so schnell wie möglich auszuschalten, nachdem das al­les klar ist, verlangt der bayerische Innen­minister, dass „wir in extremen Situatio­nen“ wie Terroranschlägen „auch in Deutschland auf die Bundeswehr zugrei­fen können“. Darüber lässt sich natürlich immer reden, nur nicht ausgerechnet nach einem Massenmord wie in Mün­chen, der eben kein Terroranschlag war, nur nicht nach einem Einsatz, in dem die Polizei bewiesen hat, dass sie ihre Arbeit ausgezeichnet ohne die Bundeswehr erle­digen kann, und nicht nach einem Verbre­chen – wie auch vor einigen Tagen im Zug in Würzburg –, das weder Polizisten noch Soldaten hätten verhindern können.
Nicht nur der Anlass, über den Bundes­wehreinsatz im Inland zu reden, ist falsch, eine einzigartige historische Verzerrung ist auch die Begründung, die der bayerische Minister seiner Forderung gibt: „Wir leben nicht in Zeiten der Weimarer Republik. Wir haben eine absolut stabile Demokratie.“ Offenbar ist der Gedanke, dass die Stabili­tät der deutschen Demokratie sich auch dem Umstand verdankt, dass – anders als in der Weimarer Republik – der Staat auf den Einsatz der Armee verzichtet, zu naheliegend, um von dem Minister gefasst zu werden.
Nichts ist sicher, aber die Diskussion um eine Verschärfung des Waffenrechts ist nach jedem Amoklauf garantiert. Nach­dem im Jahr 2009 ein 17-Jähriger mit einer von seinem Vater – einem Sportschützen – legal erworbenen Pistole an einer Schule in Winnenden fünfzehn andere Menschen und zuletzt sich selbst erschossen hatte, beschloss der Gesetzgeber eine Verschär­fung: Seitdem müssen Waffenbesitzer mit verdachtsunabhängigen Kontrollen rech­nen, bei vorschriftswidriger Verwahrung der Waffen drohen härtere Strafen. Nach den Morden in München kursieren, heißt es, in der Bundesregierung Überlegungen, das Waffenrecht erneut zu verschärfen. Soweit bisher bekannt, hatte sich der Amokläufer die Pistole illegal im Darknet besorgt. Kein Gesetz kann verhindern, dass sich ein zur Tat bedingungslos ent­schlossener Mensch eine Waffe besorgt, wenn keine Pistole, dann eine Axt, wenn keine Axt, dann eben ein Messer.
„Die Waffenkontrolle ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen weiter alles tun, um den Zugang zu tödlichen Waffen zu be­grenzen und streng zu kontrollieren“, sagt der Vize-Kanzler Sigmar Gabriel, und nie­mand wird ihm widersprechen. Aber rich­tig ist eben auch, dass erstens eine absolut zuverlässige Kontrolle unmöglich ist, zu­mindest solange der Privatbesitz von Schusswaffen nicht verboten ist – eine Forderung, die von Innenpolitikern noch nicht diskutiert worden ist. Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht dem Ge­setzgeber vor Jahren bescheinigt, im Waf­fenrecht seine Verpflichtung, das Recht auf Leben hinreichend zu schützen, erfüllt zu haben. Wenn schon Karlsruhe keine wei­tere Beschränkung im Waffenrecht ver­langt, dann wird es auch der Bundestag – angesichts einer ebenso rührigen wie ein­flussreichen Lobby – bestimmt nicht tun.
Fällt Politik und Gesellschaft wirklich keine andere Antwort auf das Verbrechen in München ein als eine evident sinnlose Debatte über die innere Sicherheit? Über den Täter, den 18 Jahre alten David S., ist nicht viel bekannt, doch weiß man, dass er an Depressionen litt und über Mobbing klagte. Hat ihn jemand gehört? Haben seine Lehrer, seine Mitschüler, seine El­tern und Freunde ihn wahrgenommen, seine Wut, seine wachsende Gewaltbereit­schaft? Hat niemand sein Interesse an Li­teratur und Zeitungsberichten über Amokläufe bemerkt, seine Planung der Tat über ein ganzes Jahr? Kein Amoklauf ist spontan, die Wut, die ihn auslöst, hat eine Geschichte, die mit der Tat erst endet. Es gibt keine hundertprozentige Prävention, aber es gibt Anzeichen, die die Umgebung erkennen kann – sofern sie sie überhaupt zur Kenntnis nimmt. Das setzt voraus, dass sie zu schenken bereit ist, was jeder Einzelne am dringendsten benötigt: Auf­merksamkeit. David S. hat sie wohl nicht bekommen. Ärzte attestierten ihm eine „Aufmerksamkeitsdefizitstörung“.

Aus: Berliner Zeitung, 25.07.2016. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.