von Heerke Hummel
In Großbritannien gab es ein Donnerwetter, und durch die westliche Hemisphäre ging eine Schockwelle. Schon tags darauf nahm die Entscheidung einer knappen Mehrheit der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen, Züge einer Posse der Weltgeschichte an. Im Kampf zweier Rivalen um die Macht und um die Gunst des Wahlvolks hatte man den Beschluss über eine so wichtige Streitfrage wie die nach dem Verbleib des Landes in der EU der Wählerschaft überlassen. Das wurde sogar zu einem Ausdruck von in dieser Gesellschaft herrschender Demokratie hochstilisiert – in einer Gesellschaft, in der aber auch alles zur Sache hochgradig spezialisierter Experten geworden ist! Das ist so wie wenn ein Herzkranker seinen Klempner fragte, ob ein Herzschrittmacher angeraten sei; nur, dass es sich beim Brexit um ein in höchstem Maße komplexes Problem handelt. Mit dem so gern angerufenen „mündigen Bürger“ hatte das Referendum hinterm Kanal wenig zu tun. Es ging nicht um Leben oder Tod, Frieden oder Krieg, in den ein Mann ziehen will oder nicht, wie im antiken Griechenland. Über so eindeutige Angelegenheiten darf das Volk schon lange nicht mehr entscheiden.
Das Ergebnis des Referendums hat innerhalb und außerhalb des Vereinigten Königreichs weitestgehend überrascht, vor allem auch diejenigen, die es in gutem Glauben an die Vernunft der Mehrheit nicht der Mühe wert hielten, zur Wahl zu gehen. Sogar bei den Befürwortern des Austritts scheint sich der Jubel in Grenzen zu halten. Wer der amtierenden Regierung und vielleicht auch den EU-Oberen nur einen Denkzettel verpassen wollte, hat nun selber Grund nachzudenken. So verwundert es nicht, dass schon 48 Stunden nach Feststellung des Wahlergebnisses zweieinhalb Millionen Stimmen für ein Wiederholungsreferendum gesammelt waren. Die Schotten, mehrheitlich für einen Verbleib in der EU, wollen einen neuen Anlauf für einen Austritt aus dem Königreich unternehmen, damit sie in der Europäischen Union bleiben können.
Und die britische Regierung hat es nicht eilig, dem nicht gewollten „Willen des Volkes“ zu entsprechen und den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union definitiv zu beantragen. Zwei Jahre hat sie für Verhandlungen über die Bedingungen dieses Aktes Zeit. Die, meint man, könne genutzt werden, um die EU unter Druck zu setzen und ihr fürderhin Vergünstigungen abzuringen. Aus dem übrigen Europa tönt es quer durch die Union, durch Institutionen und Parteien „Hü!“ und „Hot!“ Die einen drücken auf Tempo von Austrittsverhandlungen, andere mahnen Ruhe und Bedachtsamkeit an. Ungarns Wirtschaftsminister Mihaly Varga bereitet gar schon „ein Willkommenspaket für Unternehmen vor, die nach der Brexit-Entscheidung der Briten das Land verlassen werden“, und schloss nebenbei einen Austritt Ungarns aus der EU aus. Europa macht den Eindruck von Kopflosigkeit und Zerstrittenheit allerorten. In Übersee macht sich US-Präsident Obama vor allem Sorgen um – wen wundert’s? – das Geld. Die Vereinigten Staaten würden sich mit den europäischen Verbündeten weiter abstimmen, um die Stabilität des globalen Finanzsystems sicherzustellen, erklärte er vor Studenten in Kalifornien. Sogar der Papst meldete sich zu Wort und warnte, mit Blick etwa auf Schottland und Katalonien, vor einer „Balkanisierung“ Europas durch weitere Austritts- und Abspaltungsbestrebungen. Damit die EU ihre Kraft zurückerlange, müsse sie offen sein für „Kreativität und gesunde Zwietracht“. Sie müsse den Mitgliedstaaten zudem „mehr Unabhängigkeit, mehr Freiheit“ geben.
Nach gründlicher Analyse und daraus abgeleiteter Strategie klingen solche Aussagen nicht, eher nach Feuerwehraktionen. Auch die ersten Reaktionen aus Berlin und anderen EU-Metropolen lassen demnächst kaum mehr erwarten. Die EU leidet an ihren inneren Widersprüchen und daraus resultierenden Interessengegensätzen. Vor allem geht es dabei um Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, von dem wir alle als Gemeinschaft leben. Wenn wir Deutschen diese Gemeinschaft wirklich wollen (und wir müssen sie wollen, weil wir sie brauchen), dann müssen wir auch bereit sein zu teilen – sowohl was die Arbeit als auch was die Konsumtion betrifft. Und dies wird, wie die Geschichte lehrt, nicht im Wildwuchs von Märkten zu erreichen sein, sondern muss demokratisch bewusst organisiert, gestaltet werden. Dementsprechend gilt es, das System der Europäischen Union umzugestalten. Was gebraucht wird, ist eine Regulierung der innereuropäischen Reproduktion mit ökonomischen, finanziellen Mitteln anstelle kleinlicher Vorschriften. Eine zentrale Rolle dürfte dabei die Europäische Zentralbank in Gestalt einer obersten Finanzbehörde spielen. Sie hätte – entsprechend den sachlichen Erfordernissen beziehungsweise Strukturempfehlungen einer europäischen Planungsinstitution – Geld zur Verfügung zu stellen und so umzuverteilen, dass die geistigen und sachlichen Ressourcen dieser Gemeinschaft vollständig für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse entfaltet und genutzt werden können.
Voraussetzung einer solchen Strategie wäre ein neues ökonomisches Denken, das nicht auf Wachstum und Kapitalverwertung als Selbstzweck zielt. Ein Denken in dem Bewusstsein, dass die Billionen auf beiden Seiten des großen, allgemeinen Kontos von Soll und Haben in der Summe immer Null ergeben und dass wahrer Reichtum immer von sachlicher, zu gebrauchender, bedürfnisbefriedigender Natur ist! Er lässt sich nicht sparen, sondern muss ständig neu, also reproduziert und konsumiert werden; und zwar von allen. Darum ist die von Deutschland betriebene und vehement verteidigte Sparpolitik, verbunden mit einseitiger Exportoffensive, desaströs für Europa und – neben anderen – eine bedeutende Ursache des europäischen Dilemmas. Bislang sieht es leider nicht danach aus, dass dies in Berlin begriffen beziehungsweise in absehbarer Zeit danach gehandelt wird. Doch gerade von hier müssten die entscheidenden Initiativen für Systemveränderungen in der EU ausgehen.
So gesehen werden die nächsten Verhandlungen in Brüssel und sonst wo nicht zum Ende des derzeitigen Theaterstücks auf der europäischen Bühne führen, sondern nur den nächsten Akt der Tragödie Europas einleiten. Das Gezänk wird weitergehen, aber die Spannung dahinschwinden, wenn anstelle von Fortschritten Zerfallserscheinungen die Handlung dominieren. Dann könnte es zu einem Ende ohne Applaus kommen und das Volk – nun wieder als Akteur in der Realität – sich einem anderen Stück mit ganz neuen Angeboten zuwenden.
Den Briten ist insofern zu danken, als sie der EU den Ernst der Lage in der Wirklichkeit vor Augen geführt haben. Die da den Brexit wählten, waren zumeist älteren Semesters. Zufall? Wohl kaum! Sie dürften noch von der Denkweise aus der Frühzeit des Kapitalismus geprägt, vielleicht auch seine Nutznießer (gewesen) sein – auf Kosten anderer. Nun, da weltweit von Teilen die Rede ist, fürchten sie irrtümlicherweise um ihr Gespartes. Dass ihr heutiger Wohlstand von der heutigen, jüngeren Generation dank und innerhalb der EU geschaffen wird, übersehen sie mit ihrem Bild von einer Gesellschaft, in der – im Großen, Nationalen, wie im Kleinen, Persönlichen – jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Dieser Individualismus ist Teil ihres geistigen Erbes und natürlich nicht nur den Briten eigen. Er ist die Frucht von Bildung und Erziehung über Jahrhunderte, an der die Gesellschaftswissenschaft, vor allem auch die ökonomische, bis heute bedeutenden Anteil hatte und besonders in Gestalt des Neoliberalismus noch hat. Freiheit ist das große Modewort, sogar der Papst bedient sich seiner, eben auch im Zusammenhang mit der Europäischen Union und ihrer Krise. Von der Notwendigkeit wird ungern gesprochen. Sie wird als Zumutung empfunden und gern anderen überlassen.
Nach einem Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anderen furchtbaren Krisen hat sich die Mehrheit der Staaten Europas endlich in einer Union zusammengerauft, um das Zusammenleben der Völker gemeinsam, friedlich und zum Wohle aller zu gestalten. Das erfordert Einordnung aller, nicht Unterordnung der einen unter die anderen. Ob die weiteren Verhandlungen in und um Brüssel herum davon geprägt sein werden, ist fraglich.
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