von Eckhard Mieder
Ich kann sie nicht leiden, obwohl ich ihre Gestalt – imposant und, nun ja, elegant finde. Schwarz, kurzer, kräftiger Schnabel, den Kopf erhoben – Körper, die straff, effizient, metallisch wirken. Trotzdem: Wenn sie auffliegen und hässlich krächzen, wenn ich ihr Gekrächze aus den hohen Parkbäumen höre, in denen sie sitzen, sich versammeln und ihre Teufeleien ausbrüten – dann möchte ich sie töten. Massenhaft. Sie sind schaurige Gesellen, denen ich die Fähigkeit des Fliegens neide. Hätten sie einen Fischschwanz oder wüchsen dem einen oder anderen Exemplar die Köpfe von Ratten oder Menschen oder wären ihre Krallen die Platsch-Füße von Enten – sie wären real-existierende Geschöpfe des Hieronymus Bosch. Und sie entkommen immer.
Meinem Gartennachbarn haben sie die Teerpappe auf dem Dach der Klein-Laube zerhackt; warum sie das Dach meines Hüttchens bisher verschont haben, weiß der Geier! Sie lieben es, Löcher in die Plastik-Säcke zu hauen, in denen Erden für Gemüse und Obst oder der Rindenmulch verpackt sind. Sie zerren an der Folie, die auf den Wegen gegen das Wuchern von Giersch (gegen das nichts hilft) und von Disteln und von Gras ausgelegt ist.
Ich bin nie dabei, wenn sie ihre Destruktion betreiben. Mir und meinen Gartenfreunden bleiben die Spuren, die sie hinterlassen. Sie machen sich im halben Dutzend davon, wenn ich mich dem Garten nähere. Nicht eilig, nicht in Furcht, selbstsicher und überheblich. Ihre Sensorien haben mich bemerkt, sie lassen sich Zeit, um gelassen zu starten und – kräh! krah! kräh! – in die alten, zwanzig Meter hohen Bäume am Rande der Gartenanlage zu segeln; sie haben dort ihre Meeting-Plätze. Sie sind unerreichbar wie Astronauten/Kosmonauten im All; sie sind arrogant wie machtgeile Politiker in ihrem Kosmos. Sie sind unsichtbar und genießen die Immunität schierer Freiheit. Vielleicht haben sie sogar ein Parlament voller Anarchisten? Ich frage mich dann, ob mein Hass auf sie nicht auch ein Neid ist: ein Neid auf ihre Frechheit, auf ihre Ungebundenheit, auf ihre natürliche Dreistigkeit, die frei von moralischen Erwägungen und Zwängen ist?
In Augenblicken meiner Ohnmacht frage ich mich allerdings auch, ob sie organisiert sind. Ob sie ein Programm haben. Ob ihre Existenzberechtigung darin besteht, boshaft, zerstörerisch, arglistig zu sein. Ich frage mich, ob sie darin irgendwelchen menschlichen Organisationen, Institutionen, Religionen oder auch Funktionären, gleich welcher Verklumpung, ähneln. Das ist, gebe ich mir selbst die Antwort, eine verstiegene Deskription. Nebbich taugt die Krähe vielleicht doch nicht als Vergleich mit – ja, wen oder was soll ich jetzt nennen? Wen oder was hasse ich so, dass ich es oder ihn/sie als Krähe bezeichnen möchte? Älter werdend, wird man so ekelhaft milde (oder müde).
Wiederum muss ich mich fragen, ob die Krähen nicht auch nützliche Tiere sind. Intelligent sollen sie sein. Woran ich nicht im Geringsten zweifle; sie wissen, was sie tun, und sie wissen sich um ihre Verantwortung zu drücken; das ist ein Zeichen von Intelligenz. Neulich sah ich, beim Vorbeifahren, ein totes Eichhörnchen auf der Straße liegen. Als ich eine halbe Stunde später an derselben Stelle vorbefuhr, war eine Krähe damit beschäftigt, den Kadaver zu zerlegen und zu fressen. Einen Tag später war, zumal es über Nacht geregnet hatte, die Straßen-Stelle sauber. Die Krähe als Umweltreiniger? Keine Schwarze, sondern eine Grüne der Tierwelt?
Ich bleibe dabei: Ich kann sie nicht leiden. Sie verunsichern mich. Sie leben in meiner Nachbarschaft, aber wir wollen miteinander nichts gemeinsam haben. Ich muss mit ihnen mein Territorium teilen, ich kann gegen die Grenzverletzung nichts machen, sie sind stärker als ich. Vielleicht kann ich sie deshalb nicht leiden.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie zum Sympathieträger taugen. Kleine, frisch geborene Eisbären, grad auf die Welt gekommene Hunde, kleine Äffchen – wessen Herz ginge nicht bei deren Anblick auf? Wie sie drollig herumpurzeln und aus großen oder aus noch halb verschlossenen Augen in die Welt glotzen. Wie sie heiliges Kacka machen und närrisch nach den Fingern der Pfleger schnappen. Aber ein Krähen-Kind? Seltsamerweise begegnen mir die nicht. Es sind immer die großen, erwachsenen, abgefeimten Exemplare. Ich habe auch noch nie eine tote Krähe gesehen; wohin verschwinden diese toten Vögel?
Ich habe einmal aus einer der Wassertonnen in meinem Garten mit der Hand ein ertrunkenes Eichhörnchen gefischt. Ich habe es in einer hinteren Ecke vergraben. Der klatschnasse, bleiche Kadaver lag schwer und schauderhaft und faszinierend in meiner Hand. Ob ich eine tote Krähe anfassen würde?
Es gibt einen künstlichen Feind, den ich gegen die Krähen einsetzen könnte. Ich sehe sie, wenn ich in der Sonne sitze und an einer Bierflasche nuckle. Sie schweben über der Reihenhaussiedlung, die an die Gartenanlage grenzt: Vertreter des SEGULA-Vogels, ein Flugdrache, „Tier- und Schädlingsvertreiber, Vogel- und Wildschreck, Raubvogel 50520“. Es ist ein „hochwertiger Flugdrache mit verblüffend ähnlicher Optik zu einem Raubvogel“. Der Drache wird auf einer langen Rute montiert, von einer Schnur gehalten, und er ist ständig flugbereit.
Ich kann mir das Viertelstundenlang anschauen. Zwei von den SEGULA-Vögeln, wie sie auf- und absteigen, ruhelos, aufeinander zu, wieder voneinander weg treiben und Krähen, Raben, Gänse, auch Füchse, Marder und Murmeltiere vergraulen. Das wäre eine Waffe gegen die Krähen in meinem Garten! Nur käme ich mir albern vor, eine vielleicht fünf Meter lange Rute in den Garten zu stellen, an deren Ende ein „hochwertiger Flugdrache“ flattert. Der krächzt ja nicht mal!
Freilich: Ich stelle mir grad vor, diese beiden SEGULA-Vögel verlieben sich ineinander. Stets aufeinander zu und voneinander weg zu fliegen, nie zueinander zu kommen, eine Art der unerfüllten Liebe, von der Turgenjew meinte, sie sei die dauerhafteste… Hingegen meine ich, die könnten aus ihrer Plastik-Existenz erwachen und sich frei und davon machen… und in irgendeinem Nest dieser wunderschönen Konsum-Welt kleine SEGULA-Vögel zeugen und aufziehen… Diese Knubbelchen würde ich ins Herz schließen… doch vorher nicke ich in der samstäglichen Nachmittagssonne ein.
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