von Lutz Unterseher
Bildungsbürgerinnen und Bildungsbürger kommen zumeist aus dem geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Beritt. Nach der so genannten Dreyfus-Affäre gefragt, der Affäre in der neueren Geschichte Frankreichs, könnten sie, wenn janz besonders jebildet, eine Suada bieten, die etwa so klingen mag:
Anfangs der 1890er Jahre sah die nationalistisch-klerikal-antisemitische Militärpartei Frankreichs ihren politischen Einfluss schwinden. Es wurde deshalb ein bizarrer Versuch unternommen, die radikaldemokratische, den Menschenrechten verpflichtete Linke einzuschüchtern. Dies geschah dadurch, dass im Oktober 1894 ein jüdischer Capitaine im Generalstab, der Artillerist Alfred Dreyfus, wegen angeblichen Verrats militärischer Geheimnisse an das Deutsche Reich verhaftet und angeklagt wurde.
Dreyfus kam aus bürgerlichem Hause. Hannah Arendt nannte ihn einen jüdischen „Parvenü“, einen allzu anpassungsbereiten Emporkömmling. Sein Biograf aber hielt ihn für einen stinknormalen, patriotischen Berufssoldaten und Familienvater. (Die hohe Frau hat freilich auch in anderen Fällen ziemlich danebengegriffen: stufte sie doch etwa Adolf Eichmann, der realiter ein feuriger, fintenreicher Judenjäger war, zum blassen Bürokraten herab.)
Dreyfus geriet in die Mühlen der Militärjustiz. Bereits Ende 1894 wurde er zu Degradierung und lebenslänglicher Haft auf der Teufelsinsel verurteilt (wo der Pfeffer wächst). Obwohl doch schwere Zweifel an der Beweislage bestanden. Aber erst 1898 wurde die Unschuld des jüdischen Hauptmanns öffentlich. So gab es 1899 ein neues Verfahren, das jedoch in einer erneuten Verurteilung endete: nun zu „nur“ zehn Jahren Festungshaft. Doch Dreyfus wurde kurz darauf durch den Präsidenten der Republik begnadigt. Die vollständige Rehabilitation samt Wiedereinstellung in seine geliebte Armee erfolgte allerdings erst 1906.
Das Verfahren mit all seinen Machenschaften hatte Frankreich in politischen Aufruhr versetzt und letztlich die Linke gestärkt. Und es hatte einen Mann zu Großem inspiriert: Gemeint ist ein stattlicher Herr mit wohlfrisiertem Vollbart, der Wiener Journalist Theodor Herzl, der als Prozessbeobachter zu dem Schluss kam, dass die Integration der Juden in die europäische Kultur gescheitert wäre und es fortan darum gehen müsse, diesen Menschen eine nationale Heimstatt zu schaffen.
Soweit so gut – oder doch wohl eher bedrückend. Doch es stellt sich eine Frage, bei der unsere Gebildeten wohl eher passen müssen: Was sollte Dreyfus denn eigentlich verraten haben? Was war es, das die nationale Sicherheit – angeblich – in dramatischer Weise gefährdet hatte?
Dem Hauptmann wurde vorgeworfen, neben eher unwesentlichen Informationen zum französischen Festungswesen und zu Reservetruppenteilen vor allem eines den Deutschen zugespielt zu haben: Technische Details einer Kanone mit dem frein hydropneumatique. Gemeint ist eine Hydraulik, mit der bewirkt wird, dass der Rückstoß beim Abfeuern eines Geschosses sich nicht auf das ganze Geschütz überträgt und dieses zurückrollen lässt, sondern dass die Energie beim Zurückgleiten nur des Rohres durch Bremsung aufgezehrt wird. (Anschließend wird das zurückgeglittene Rohr pneumatisch wieder in seine alte Position versetzt.)
Dadurch lässt sich die Feuergeschwindigkeit eines Geschützes außerordentlich, maximal um das Zehnfache steigern. Muss dieses doch nicht nach jedem Schuss wieder nach vorn gerollt und neu gerichtet werden.
Die Idee zu dieser Innovation ging ursprünglich auf einen fränkischen Tüftler zurück („der Tod ist ein Meister aus Deutschland“). In Frankreich kam man jedoch unabhängig davon auf dieselbe Lösung und war, als es um die Entwicklung zur Gefechtstauglichkeit ging, erheblich schneller als die Deutschen – hatte also einen Vorteil, den es zu hüten galt.
„Interessant, aber doch ein wenig trivial“, mögen manche nun sagen. Vielleicht dürfen wir aber dennoch notieren, dass mit solcher Trivialität mehr Menschen um Leben oder Gesundheit gebracht wurden als durch irgendeine andere militärische Technologie.
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