von Peter Birle
Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff steht am Abgrund. Seit 2014 befindet sich ihr Land in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Im Oktober 2014 wurde die Präsidentin mit knapper Mehrheit wiedergewählt. Seitdem hat sich nicht nur die wirtschaftliche Situation dramatisch verschlechtert, auch die politisch-institutionelle Krise spitzt sich zu. Der Korruptionsskandal um den staatlichen Energiekonzern Petrobras, bei dem es um millionenschwere Schmiergeldzahlungen geht, hat das ohnehin geringe Vertrauen der Gesellschaft in die politische Klasse des Landes weiter untergraben. Nicht nur die regierende Arbeiterpartei PT, auch die meisten anderen Parteien sind in den Skandal verstrickt. Der Zorn und die Frustration großer Teile der brasilianischen Gesellschaft richten sich seit Beginn ihrer zweiten Amtszeit Anfang 2015 in zunehmendem Maße gegen Dilma Rousseff, auch wenn die Präsidentin nicht im Verdacht steht, selbst korrupt zu sein. Sie war jedoch nicht in der Lage, überzeugende Wege aus der Krise aufzuzeigen. Laut einer Mitte März veröffentlichten Meinungsumfrage bewerten 69 Prozent der Befragten die amtierende Regierung als schlecht oder sehr schlecht, 82 Prozent missbilligen die Art und Weise, wie Rousseff die Amtsgeschäfte führt und 80 Prozent haben kein Vertrauen in die Präsidentin.
Bei den seit 2015 stattfindenden Massendemonstrationen gegen die Regierung war immer öfter auch von einem Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin die Rede. Entsprechende Anträge sind für die brasilianische Politik kein Novum, seit 1990 gab es mehr als 130 davon: 29 gegen Fernando Collor, 17 gegen Fernando Henrique Cardoso, 34 gegen Luiz Inácio Lula da Silva und bislang 49 gegen Dilma Rousseff. Nur einmal wurde zuvor ein Impeachment-Verfahren wirklich eingeleitet, und zwar 1992 gegen Präsident Collor, der dann tatsächlich sein Amt verlor. Seit dem 2. Dezember 2015 muss auch Rousseff um ihr Amt fürchten, denn an diesem Tag ließ der Präsident des Abgeordnetenhauses eine gegen sie eingereichte Anzeige wegen „Verantwortlichkeitsverbrechen“, wie es in Artikel 85 der brasilianischen Verfassung heißt, zu. Als derartige Vergehen gelten Handlungen, die gegen die Bundesverfassung gerichtet sind, insbesondere gegen den Bestand der Union, gegen die freie Ausübung der gesetzgebenden und der rechtssprechenden Gewalt und die verfassungsmäßigen Rechte der Einheiten der Föderation, gegen die Ausübung der politischen, individuellen und sozialen Rechte, die innere Sicherheit, die Redlichkeit der Verwaltung, die Haushaltsgesetzgebung sowie gegen die Befolgung der Gesetze und der gerichtlichen Entscheidungen.
Die Klageschrift wirft Rousseff fiskalpolitische Unregelmäßigkeiten vor und beruft sich dabei auch auf ein Urteil des brasilianischen Bundesrechnungshofs TCU (Tribunal de Contas da União). Dieser hatte Anfang Oktober 2015 die Haushaltsbilanz der Regierung für 2014 mit dem Argument zurückgewiesen, sie enthalte Unregelmäßigkeiten und verstoße gegen Grundsätze der Verfassung, gegen die Haushaltsordnung sowie gegen das Bundesrecht. Die Regierung habe die Haushaltsbilanzen manipuliert, um während des Wahlkampfes das wahre Ausmaß des Defizits zu verschleiern. Rousseff habe zudem nicht nur 2014, sondern erneut 2015 fiskalpolitische Dekrete erlassen, die nicht im Einklang mit der Verfassung stünden. Die Präsidentin weist alle Anklagepunkte von sich. Sie sieht sich als Opfer eines versuchten Staatsstreichs durch die Opposition, die ihre Niederlage bei den Wahlen von 2014 nicht akzeptieren wolle. Rousseff lehnt einen Rücktritt ab und betonte mehrfach, dass sie ihre bis Ende 2018 dauernde zweite Amtszeit zu Ende führen werde. „Es wird keinen Putsch geben!“, lautet ihre zentrale Botschaft an die Vertreter ausländischer Botschaften und Medien.
Anders als 1992, als zwischen der großen Mehrheit der Juristen und der politischen Klasse ein Konsens hinsichtlich der Stichhaltigkeit der Anklagepunkte gegen den damaligen Präsidenten Collor bestand, sind Juristen, Sozialwissenschaftler und Politiker heute zutiefst zerstritten über die Legitimität des Verfahrens gegen Dilma Rousseff. Die Gegner sehen keine stichhaltigen Gründe für ein Impeachment und sprechen von einem kalten Putschversuch. Die vom TCU bemängelte „kreative Buchführung“ der Regierung habe es zwar tatsächlich gegeben, sie entspreche jedoch nicht dem Tatbestand eines Verantwortlichkeitsverbrechens. Zudem gehe es dabei um Handlungen aus der ersten Amtszeit der Präsidentin. Ein Amtsenthebungsverfahren dürfe sich jedoch nur auf Handlungen aus der laufenden Amtszeit beziehen. Das Amtsenthebungsverfahren sei außerdem nicht dazu geschaffen worden, um unfähige oder unbeliebte Politiker abzuberufen.
Diese Argumente treffen durchaus zu, genauso wie die Hinweise darauf, dass viele derjenigen Parlamentarier, die jetzt über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff zu entscheiden haben, selbst alles andere als eine weiße Weste haben. Nicht nur gegen den für die Zulassung des Verfahrens verantwortlichen Parlamentspräsidenten Cunha, sondern gegen 34 von 65 Mitgliedern der im Zuge des Verfahrens gebildeten Sonderkommission des Abgeordnetenhauses laufen Untersuchungen des Obersten Gerichtshof wegen einer möglichen Verwicklung in den Petrobras-Korruptionsskandal. Es ist offensichtlich, dass Cunha und große Teile der Opposition die Präsidentin unbedingt stürzen wollen und sich dazu aller verfügbaren Mittel bedienen werden. Gleichwohl ist es übertrieben, wenn die Präsidentin, ihre glühendsten Verteidiger oder ausländische Staatspräsidenten wie Evo Morales (Bolivien) und Nicolás Maduro (Venezuela) vor einem „Staatsstreich ohne Militär“ warnen. Das Amtsenthebungsverfahren ist ein von der Verfassung vorgesehener politischer Mechanismus, der sich zwar rechtlicher Argumente bedienen muss, aber letztlich immer ein politischer Prozess bleibt. Dessen ist sich auch die Regierung bewusst, deren Partei nicht nur selbst gegen frühere Präsidenten Anträge auf Amtsenthebung eingereicht hat, sondern auch jetzt genauso wie ihre Gegner dazu bereit ist, politische Mechanismen und Gesetze in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Dass die Regierung gegen Haushaltsgesetze verstoßen hat, ist erwiesen. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass frühere Regierungen erwiesenermaßen ähnlich agiert haben. Inwiefern damit ein Tatbestand im Sinne von Artikel 85 der Verfassung erfüllt ist, bleibt letztlich Auslegungssache.
Genau das setzt Rousseff immer stärker unter Druck, zumal sich Ende März der größte Koalitionspartner PMDB endgültig von der Regierung losgesagt hat. Aber all dies macht aus dem Verfahren noch keinen Putschversuch. Und so bedauerlich die starke Polarisierung des Landes auch ist, so muss sich die amtierende Präsidentin auch vorhalten lassen, selbst nicht unwesentlich dazu beigetragen zu haben, beispielsweise durch die Diskreditierung ihrer politischen Gegner während des Wahlkampfes von 2014. Es ist das gute Recht der Regierung, mit allen legalen Mitteln zu versuchen, eine Mehrheit für die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens zu verhindern. Sie tut der politischen Kultur des Landes jedoch keinen Gefallen, wenn sie von der Gefahr eines Putsches spricht und damit die Polarisierung weiter anheizt. Denn bereits jetzt ist das Land tief gespalten. Anhänger und Gegner der Regierung beschimpfen sich gegenseitig auf der Straße, in den Medien und den sozialen Netzwerken. Der dabei oft zu spürende Hass und die Verrohung der politischen Kultur sind eines der größten Probleme, das die gegenwärtige Krise sichtbar macht. Die Regierung sollte dem entgegensteuern und nicht durch die Warnung vor einem angeblichen Putschversuch noch mehr Öl ins Feuer gießen.
Wie geht es weiter? Wenn die Mehrheit der Mitglieder der Sonderkommission des Abgeordnetenhauses, die über den Impeachment-Antrag debattiert, sich für ein Verfahren ausspricht – was sehr wahrscheinlich ist – , muss das Parlamentsplenum darüber abstimmen. Für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens ist eine Zweidrittelmehrheit (342 Stimmen) notwendig, umgekehrt benötigt die Regierung 171 Stimmen, um dies zu verhindern. Bisher haben sich circa 290 Abgeordnete für ein Impeachment und 115 dagegen ausgesprochen. Alles wird also von den gut 100 Abgeordneten abhängen, die sich noch nicht entschieden oder öffentlich zu ihrer Haltung geäußert haben. Sollte im Abgeordnetenhaus eine Zweidrittelmehrheit zustande kommen, so ist ein Impeachmentverfahren kaum noch zu verhindern, denn im Senat reicht eine einfache Mehrheit, und die hat die Opposition so gut wie sicher. Sollte ein Verfahren eingeleitet werden, muss die Präsidentin ihr Amt für 180 Tage ruhen lassen. In dieser Zeit würde das Amt von Vizepräsident Temer bekleidet. Er würde das bis zum 1. Januar 2019 datierte Mandat auch zu Ende führen, falls Rousseff tatsächlich des Amtes enthoben werden sollte.
Die gegenwärtige Impeachment-Debatte ist Ausdruck der tiefen inneren Zerrissenheit Brasiliens. Eine Absetzung von Rousseff auf der Grundlage der eingereichten Klageschrift würde die politische Stabilität des Landes weiter untergraben. Das Verfahren läuft in den gesetzlich vorgeschriebenen Bahnen, insofern ist es legal, es trägt jedoch – egal wie es ausgeht – nicht dazu bei, die Probleme Brasiliens zu lösen.
Aus: Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), 07.04.2016. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
Schlagwörter: Amtsenthebungsverfahren, Brasilien, Dilma Rousseff, Peter Birle, Petrobras