19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Mein hessischer Wahlsonntag

von Eckhard Mieder

Sonntag, 6. März 2016. Das erste Mal in meinem Leben habe ich kumuliert und panaschiert. Bis vor ein paar Tagen wusste ich nicht genau, welche Tätigkeiten ich damit ausüben würde. Die Hessenschau, meine heimatliche, abendliche Nachrichtensendung um 19.30 Uhr, erklärte es mir über die Woche. Dennoch kam ich mir auf dem Weg zum Wahl-Lokal vor, als stünde ich kurz davor, Schlüpfriges zu tun.
Auch schämte ich mich. Ich scheine noch immer ein Eleve zu sein, der auf dem Parkett der parlamentarischen Demokratie, ihren Begrifflichkeiten und ihren Erfordernissen mehr rutscht als tanzt. Und das, obwohl ich es liebe, mich mit der Geschichte Deutschlands zu befassen und noch immer kaum eine TV-Talkshow auslasse. Mit meinem linken Schuh, der historischer, und mit meinem rechten Schuh, der dialektischer Materialismus heißt, bin ich denkbar unpassend zu Fuß; offenbar neige ich zum Masochismus.
Die Wahlzettel hatten diesmal eine Größe, die Obdachlose als Decken benutzen könnten oder Witzbolde zum Tapezieren. Die Wahlurnen waren Mülltonnen, original solche, wie sie jeden zweiten Tage von der Frankfurter Entsorgung- und Service GmbH vor meiner Tür abgeholt werden. Ich fand mich lässig und lustig, als ich die junge Frau, die den Wahlzettel-Schlitz mit einem Blatt Papier öffnete und schloss, fragte, ob diese Abfall-Behälter metaphorisch gemeint seien. Sie lachte und meinte: „Fragen Sie nicht mich!“ Entschuldigend sagte ich: „Diese blöde Frage kriegen sie heute bestimmt von vielen.“ (Als ich am Abend von den nicht mal 40 Prozent der vorläufigen Wahlbeteiligung in Frankfurt am Main hörte, korrigierte ich mich nachträglich. Von so vielen Menschen kann die Wahlhelferin die Frage nicht gehört haben.)
Ich verbrachte einige Minuten in der Wahlkabine und verwarf die Idee, die ich am Vormittag hatte: Nicht so recht zu wissen, wen ich ankreuzen wollte (ein paar Parteien und Parteichen scheiden von vornherein aus; da dürfte mein Wahlverhalten das Wahlverhalten der meisten Menschen sein), würde ich hinter allen Namen, die fremdländisch klingen, ein Kreuz machen (panaschieren?). Wenn sie (oder er) der Partei oder den Parteien angehörte, mit denen ich sympathisierte, könnte ich auch drei Kreuze (kumulieren) machen. Also hinter all den, sage ich mal metaphorisch, Barbosa de Limas, Yilmazes, Podstatnys, Stojanovices, Munoz del Rioses, Ayyildizes, setze ich ein oder mehrere Kreuze. 93 davon standen mir zur Verfügung. Daraus könnte man, wären sie aus Stahl, einen kleinen Spielzeug-Stacheldraht zwirbeln und Barbie-Flüchtlinge abschrecken.
Eine Bekannte erzählte mir, dass sie bei einer Wahl ihre Kreuze ausschließlich hinter die Namen von Frauen gesetzt hatte. Auch eine Idee, auch eine Haltung, fand ich. Schließlich kennen wir die wenigsten der Kandidatinnen und Kandidaten persönlich. Wahlversammlungen zu besuchen, reicht die Zeit und das Interesse nicht. Die Verheißungen von den Plakaten sind meistens peinlich. Die SPD hängte eines auf, das ging so: Der Oberbürgermeister Feldmann strahlt vom Grünstreifen in der Mitte einer Magistrale in den Autoverkehr, dazu steht: FRANKFURT? GEHT WAS. Wie? Was? Woher? Wohin? Egal, in Frankfurt geht was. Es gab dann kleinere Plakate, die – vermutlich – erklärten was geht. DAS SCHWARZ-GRÜNE BILDUNGSCHAOS BESEITIGEN? GEHT. Dabei wäre angebrachter zu schreiben FRANKFURT. FÄHRT. Ach, geht mir vom Acker, ihr Wahlkampf-Tröten-und-Spruchbeutel!
Zurück in meine Wahlkabine. Auf der riesigen Pappe auf meinem Tisch stand vorn drauf SICHTBLENDE; demokratische Wahlen sind geheime Wahlen. Dann lugte ein Mädchen von vielleicht vier Jahren um die Ecke. Ich war in der Versuchung, ihr den Bleistift in die Hand zu drücken und sie ein paar Kreuze malen zu lassen. Aber sie erschrak, als sie mich sah; sie hatte ihren Vater oder ihre Mutter hinter der SICHTBLENDE gesucht. Ich hätte ihr den Stift nicht wirklich gegeben, weil immerhin die Gefahr bestand, dass sie ganz rechts auf dem (wie gesagt) hundeteppichgroßen Wahl-Schein alles vollgekritzelt hätte.
Das haben andere besorgt. Am Abend saß ich vor dem Fernsehgerät und fieberte den Ergebnissen entgegen. Ist ein bisschen wie beim Sport, Biathlon etwa, wenn die Sekunden in Echtzeit verstreichen und die Athleten am Schießstand entweder treffen oder sich in die Strafrunden schießen. Das sorgt für enorme Verschiebungen im Klassement. Das ist ein bisschen unvorhersehbar und ein bisschen wie bei Wahlen.
Ich hörte eine bizarre Moderatorin mit der heutzutage offenbar für die Bildschirm-Präsens benötigten Ich-atme-falsch-Knödel-Stimme sagen, dass die AfD „aus dem Stand heraus“ (wie Turner springen?) zweistellige Quoten erreicht habe, und dass dies „der Hammer sei“ (ein Begriff, den ich üblicherweise als Notation dem Jubeln gebe; hat sie so nicht gemeint, die pfiffige Blondierte).
Ich hörte „in ersten Stellungnahmen“, dass man entsetzt sei; dass die Gründe der eigenen Verluste analysiert werden müssten; dass man jetzt schon sagen könne, die Partei mit den meisten Zuwächsen sei undemokratisch und eine reine Protestpartei; dass die niedrige Wahlbeteiligung natürlich den Protestlern in die Hände spiele (denn die gingen des Protestes wegen zur Wahl, während die anderen Wähler offenbar, das wird nicht gesagt, den regennassen Sonntag lieber bei Kaffee und Gebäck verbringen und selig träumen, dass alles bleibt, wie es ist); dass die Volksparteien enorm verloren hätten und Koalitionen aus drei, vier Parteien denkbar werden … (Gröber gestrickte Charaktere, als ich es bin, hätten spätestens jetzt gesagt: Das ist doch alles in die hohle Hand geschissen.)
Ich war weniger enttäuscht als ich von mir als Demokraten erwartet hätte. Ich saß auf meinem Sofa, nippte am Becher mit dem Multivitaminsaft und fand alles in allem den Wahl-Ausgang nicht so entsetzlich. Nicht so unerwartet. Auch nicht so „hammermäßig“.
Ich weiß nicht, was sogenannte demokratische (mithin auch nur gewählte) Parteien (oder deren Vorstände, Funktionäre, Sprecher, APPARATSCHIKS) erwarten, wenn sie andere Parteien über Wochen und Monate als undemokratisch und ihren wachsenden Einfluss, den sie dem Zuspruch und Zulauf von Bürgerinnen und Bürgern verdanken, als Werk des rechten Teufels abtun. Woher kommt diese Arroganz und Realitätsblindheit, für die sie dann abgestraft werden und ihre Pfründe verlieren, ihre Funktionen und ihren bräsigen APPARAT schmälern müssen? Was lässt die in Gewohnheiten dümpelnden, einer Parteidisziplin frönenden und einer Großen Koalition gehorsam folgenden APPARATE-KULTUR glauben, es genügte, von Problemen und Lösungen zu schwätzen, wenn sie zwar Probleme haben, aber keine Lösungen anbieten? (Woher kenne ich das? Hebt euch davon, ihr nostalgischen Anflüge!) Niemandem. Da kann es schnell passieren, dass jemand zum Tanzen auf das außerparlamentarische Demokratie-Parkett tritt und kassiert: alle, die unzufrieden sind. Nicht nur mit der Flüchtlingspolitik, sondern auch mit der Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Nicht nur mit einer offenbar realitätsfremden Politiker-Kaste, sondern auch mit der kaschierten Kriegspolitik. Nicht nur mit einer Marktwirtschaft, die schon niemand mehr sozial nennt (habe ich lange nicht gehört), sondern mit einem Wirtschaftsmarkt, den alle neoliberal nennen (höre ich oft).
Das kulminiert dann. In Parteien, hinter die ich meine Kreuze niemals setzen werde. In Parteien, deren Absichten leider auch zu wenig geprüft werden, weil das Geschrei über sie erstmal reflexhaft durchs Land schallt und alles übertönt und die Ruhe zum Nachdenken nicht sucht.
Das panaschiert dann in einem ganz, ganz großen Kreuz, an das die Demokratie genagelt wird. Wenn es anders kommt, so rechter, so faschistischer, so diktatorischer, wenn es mehr wieder so ein Ein-Führer- oder eine Eine-Führerin-Betrieb wird – auch das wird schon gehen. DEUTSCHLAND? GEHT.