19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

„Selbstbildnisse von Bosch gibt es nicht.“ Eine Ergänzung

von Gabriele Muthesius

Die derzeit laufende große Bosch-Retrospektive des Noordsbrabants Museums in ’s-Hertogenbosch, der Heimatstadt des Ausnahmekünstlers, ist in der vorangegangenen Ausgabe des Blättchens ausführlich besprochen worden.
Dabei stellte der Autor ebenso en passant, wie kurz und bündig fest: „Selbstbildnisse von Bosch gibt es nicht.“ Auch die jetzige Ausstellung geht der Frage nach möglichen Selbstdarstellungen im Œuvre Boschs nicht nach. Beides ist kaum verwunderlich, denn ein ausgewiesenes solitäres Selbstbildnis Boschs ist ja tatsächlich nicht bekannt. Das einzige erhaltene Porträt, aufbewahrt in der Bibliothek zu Arras (Spanien), entstand erst Jahrzehnte nach Boschs Tod.
Doch möglicherweise geht eben dieses Porträt auf die Vorlage einer „in Verlust geratenen Urzeichnung“ von Bosch selbst zurück. So jedenfalls die Annahme des 1964 verstorbenen deutschen Kunsthistorikers Wilhelm Fraenger, dessen Arbeit „Hieronymus Bosch. Das Tausendjährige Reich. Grundzüge einer Auslegung“ 1947 als Band 1 einer geplanten größeren Arbeit, deren weitere Teile jedoch nie zur Publikationsreife gelangten, erschienen war und bald Übersetzungen ins Englische sowie ins Französische und noch im Jahre 2006 eine italienische Ausgabe erlebte.
Fraenger hinterließ ein üppiges Konvolut exegetischer Texte zu Bosch, dessen wichtigste postum publiziert wurden (inklusive der Schrift von 1947) – in dem voluminösen Band im Schuber „Wilhelm Fraenger: Hieronymus Bosch“, VEB Verlag der Kunst Dresden 1975 (redaktionell zusammengestellt von Gustl Fraenger und Ingeborg Baier-Fraenger).
Darinnen ein Abschnitt „Die Selbstbildnisse Boschs“. Mit nachgerade kriminalistischem Gespür hat Fraenger durch vergleichende Bildanalyse den Indizienbeweis versucht, wenn nicht erbracht, dass Bosch sich in seinen Werken eben doch auch selbst dargestellt haben könnte.
Fraenger entdeckt den Maler zunächst auf der großen Mitteltafel des Triptychons „Das Paradies der Lüste“ (auch „Garten der Lüste“ genannt, im Bestand des Madrider Prados – nicht in der jetzigen Ausstellung ’s-Hertogenbosch zu sehen), das bei Bosch „Das Tausendjährige Reich“ heißt: In der rechten unteren Ecke der Retabel – ein Mann, der als einziger in diesem bukolischen, sexuell aufgeladenen Reigen und Treiben nackter Frauen und Männer, das die gesamte Szenerie beherrscht, bekleidet und zugleich, weil in einer Art Höhlung befindlich, dem Gesamtgeschehen entrückt ist. Fraenger teilt mit: „Dieser ‚letzte Mann‘ – die Maler jener Tage übten die Zurückhaltung, sich an bescheidenen Orten vorzustellen – hat das Bild geschaffen. Wir kennen dies breit angelegte, rechtschaffen derbe und selbstsichere Gesicht mit seinen weit auseinander stehenden Augen, die ruhig, fest und streng im Schauen eines fernen Gegenstands verharren, mit seiner geradstämmigen und in breiten Flügeln ansetzenden Nase und seinem in gerader Linie fest verschlossenen Mund aus dem zehn Jahre späteren Selbstporträt der ‚Kreuztragung‘ im Wiener Kunsthistorischen Museum.“
Auf dieser Wiener Tafel (in ’s-Hertogenbosch zu sehen) meint Fraenger den Mann mit Kappe, angeschnitten am mittleren linken Bildrand, der dem Geschehen nicht folgt, sondern – mit sinnend nach innen gekehrtem Blick – das Gesicht dem Betrachter des Gemäldes zuwendet.
Bosch, laut Fraenger, begegnet dem Betrachter des Weiteren im Gemälde „Der Gaukler“ aus dem Musée municipal de Saint-Germain-en-Laye (ebenfalls in ’s-Hertogenbosch ausgestellt) – als hinterster der Zuschauer, der als einziger (wiederum quasi entrückt) dem Geschehen im Vordergrund nicht folgt.
Und schließlich auf der „Dornenkrönung“, seit 1593 im Escorial bei Madrid und in ’s-Hertogenbosch als Mitteltafel des Passions-Tryptichons aus dem Museo de Bellas Artes aus Valencia präsent. Von der hintersten Figur – zugleich der zweiten von links, direkt neben Pilatus – spricht Fraenger als von einer „tief lotenden Selbstoffenbarung“ und führt dann aus: „Während er (Bosch – G.M.) sonst uns nur in Kappen gegen­übertritt, sieht man hier erst die physiologische Besonderheit seines in eigenwilligem Gestrüpp und dichtem Wildwuchs aufgeschossenen Haares: Kraftzeugnis der urtümlichsten Vi­talität, die diesen ‚Bosch‘ wirklich zu einem wurzelechten ‚Wald‘-mann, einem triebhaften Silvanus macht. Die näm­liche Naturkraft offenbart sich in der Stämmigkeit seines mit einem starken Adamsapfel aufgekröpften, muskulösen Halses. Diese naturhafte Potenz wird von der scharfen Wachheit eines Intellekts durchdrungen, der tief gesammelt und unwandelbar das Leid betrachtet. Jedoch kein Zug von Mitge­fühl erweicht den Starrsinn dieses Angesichtes. Sein Ausdruck ließe sich am ehesten durch den Begriff ‚Bedenklichkeit‘ be­zeichnen, dessen Doppelsinn eine nachdenkliche Verinnerung wie auch das skeptische Erfassen einer bedenklichen Situa­tion umgreift. Was diese bis zum Schielen überstrafften Augen willentlich durchdringen, was diese gleichmütig bestätigen­den Lippen wissentlich beschweigen, ist ein ‚So geht es in der Welt‘, ein ‚Ecce homo‘ in der abgründigsten Zweideutig­keit des Wortes.“
Von dieser Retabel schlägt Fraenger den Bogen zum Porträt in Arras: „Die Summa seiner Selbstbildnisse, auf dem der unbestech­lichste der plastischen Anatomen: das Greisenalter die Mo­dellierung übernommen hat, ist nur in einer Nachzeichnung der Bibliothek zu Arras überliefert. Jedoch war offenbar die Überzeugungskraft der in Verlust geratenen Urzeichnung so zwingend, daß sie uns ohne merkliche Verminderung auch noch aus der Kopie zu überwältigen vermag. Hier steht der nordische Magus hinter seinen Werken, deren Schöpfungs­tage, gleich den sieben Knöpfen über seiner Brust, geschlos­sen sind. Eine vulkanische Versteinerung ist sein Gesicht: obenauf ausgeglüht, da allzu tief durchglutet, in der Zerfallenheit erst recht verfestet, verschwiegen bis zum äußersten und dadurch innerlichst beredt, da über allem das bis zu der letz­ten Stunde Zuverlässige und Treue steht: die weite, ruhige und offene Schau und eine Haltung, die sich der Welt hoch­aufgerichtet, mit freier Stirn und festem Nacken gegenüber­stellt.“
Soweit Wilhelm Fraenger.
Zwei der von ihm herangezogenen Werke, „Der Gaukler“ und die „Dornenkrönung“, werden heute, anders als zu Fraengers Zeiten, nicht mehr Boschs eigener Hand, sondern Epigonen zugeschrieben. Die „Dornenkrönung“ – trotz „der recht genauen Imitation der Signatur“ des Künstlers, auf die der Katalog der jetzigen Ausstellung verweist, – nicht zuletzt deshalb, weil kurz vor der großen Bosch-Retrospektive, im Jahre 2001 im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam ein Holzexperte festgestellt hatte, dass die Eiche, die den Malgrund lieferte, erst nach 1530 gefällt worden sei. Also etliche Jahre nach Boschs Ableben. Auch die großflächige Verwendung von Gold auf dieser Tafel ist höchst untypisch für die Darstellungs- und Kompositionsweise Boschs. All dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass bei dieser Arbeit nicht auch eine damals noch vorhandene Vorlage Boschs Verwendung gefunden haben könnte …
Das umfangreichste, je durchgeführte Forschungsprojekt zum Gesamtwerk von Bosch, im Vorfeld der jetzigen Ausstellung vom Noordsbrabants Museum durchgeführt, wäre eine hervorragende Gelegenheit gewesen, der Frage nach möglichen Selbstdarstellungen Boschs mit den heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten nachzugehen. Die Frage ist aber leider nicht aufgeworfen worden …