von Edgar Benkwitz
Am 23.Januar 2016 blickte die politische Öffentlichkeit Indiens gespannt nach Neu Delhi. Regierungschef Narendra Modi hatte versprochen, mit der Geheimnistuerei all seiner Vorgänger Schluss zu machen und für Transparenz in einer die Öffentlichkeit seit Jahrzehnten bewegenden Frage zu sorgen. Ein bisher geheim gehaltenes umfangreiches Aktenpaket über den umstrittenen Nationalhelden Subhash Chandra Bose, der vor über 70 Jahren bei einem Flugzeugunglück in Taiwan ums Leben kam, sollte freigegeben und dem Nationalarchiv überstellt werden. Das Datum war nicht zufällig gewählt, denn an diesem Tag finden in Indien traditionell Gedenkveranstaltungen statt, Bose wäre 119 Jahre alt geworden. Zu der Zeremonie war medienwirksam auch die Familie Boses eingeladen, fünfunddreißig Angehörige erschienen.
Die nun präsentierten 100 Aktenordner mit über 17.000 Blatt Papier befassen sich vornehmlich mit Untersuchungen des Todes von Bose. Der hatte an der Spitze einer indischen Exil-Armee, die von den Japanern initiiert und unterstützt wurde, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges seine Heimat Indien von der britischen Kolonialherrschaft befreien wollen. Von Burma kommend, hatte er jedoch kaum indischen Boden betreten, als seine Pläne schon scheiterten. In den allerletzten Tagen des Krieges wurden die japanischen und seine Truppen von der regulären indisch-britischen Armee vernichtend geschlagen. Bose flüchtete und kam bei besagtem Flugzeugunglück am 18.August 1945 – wenige Tage vor der offiziellen japanischen Kapitulation – ums Leben.
Doch sein Schicksal wollte in großen Kreisen der indischen Bevölkerung nicht wahrgenommen werden. Vor allem in seiner bengalischen Heimat galt er als Held, hatte er sich doch gegen die britischen Unterdrücker gestellt. Die Bengalen hatten während des Krieges besonders große Opfer zu bringen – 1943 kamen dort bei einer Hungersnot 2 Millionen Menschen ums Leben. Viele hatten auf ihren „Netaji“(geliebten Führer) gesetzt, dabei übersehend, dass er nur ein Werkzeug bei der Errichtung der japanischen Herrschaft in großen Teilen Asien sein konnte. So glaubte man nicht an seinen Tod, vielmehr an ein Komplott der Engländer oder gar an ein wundersames, geheimnisvolles Verschwinden Boses. Gerüchte und Spekulationen wurden in der Folge immer stärker, zusätzlich gepaart mit dem Vorwurf, dass auch die Führung der regierenden Kongresspartei unter Premierminister Jawaharlal Nehru mit den Briten unter einer Decke stecke. Alte Rivalitäten zwischen Bose, Nehru und Mahatma Gandhi wurden hervorgeholt. Bose, der zweimal Präsident der Kongresspartei war, hatte sich 1939 dem Druck Gandhis beugen und von dieser Funktion zurücktreten müssen. Er beschritt dann seinen folgenschweren Weg, der ihn zuerst in das faschistische Berlin, wo er von Hitler empfangen und von Himmler unterstützt wurde, und dann nach Japan führte. Diese Handlungen standen im Gegensatz zur erklärten Politik der nationalen Befreiungsbewegung in Indien, die sich von faschistischen und imperialen Weltherrschaftsplänen abgrenzte und die Anti-Hitler-Koalition unterstützte.
Alle indischen Regierungen mussten sich nach Kriegsende mit dem Fall Bose und den Umständen seines Todes beschäftigen. Bereits 1956 hatte eine Untersuchungskommission Dokumente und Zeugenaussagen über den Hergang des Unglücks in Taipeh beschafft, die keinen Zweifel an Boses Tod ließen. Doch diese Zeugnisse wurden zurückgehalten und mit einem Schleier des Geheimnisses umhüllt. Noch 2006 hieß es, dass eine Veröffentlichung „die Beziehungen zu ausländischen Regierungen negativ beeinträchtigen würde“.
Kehrten nun, nach der groß angekündigten Aktion Modis, endlich Transparenz und Ruhe ein? Mitnichten, muss man leider feststellen. Obwohl durch die Aktenfreigabe keine umwerfenden Neuigkeiten enthüllt wurden, lassen sich die großen politischen Lager ihr Thema nicht nehmen. Das Schicksal Boses wird weiterhin im politischen Tageskampf vermarktet, insbesondere wird der bengalische Nationalismus bedient. Denn Bose ist in Bengalen tief verankert, im Land stehen viele Denkmäler, es gibt ein Museum, der internationale Flughafen von Kolkata (Kalkutta) und eine Universität tragen seinen Namen. Ausschlaggebend ist jedoch, dass der Unionsstaat Westbengalen mit seinen über 90 Millionen Einwohnern am Vorabend von Landtagswahlen steht – mithin setzen jetzt alle Parteien auf den Faktor Bose. Überaus aktiv ist dabei die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) von Premierminister Narendra Modi. Sein Versprechen, für Transparenz zu sorgen, hatte er noch im Wahlkampf vor drei Jahren abgegeben. Doch nichts geschah, Modi musste sich Untätigkeit vorwerfen lassen. Erst jetzt wird klar, dass die Aktenöffnung bewusst auf Ende Januar 2016 gelegt wurde, um einen Trumpf im beginnenden Wahlkampf in Westbengalen auszuspielen. Ein weiterer Trumpf sollte auch das Auftreten eines entfernten Verwandten Boses auf einer Großveranstaltung in Kolkata sein. Im Beisein des BJP-Präsidenten schürte er die Emotionen, indem er erklärte: „Wir sind der Meinung, dass während der Kongress-Herrschaft sehr wichtige Akten vernichtet wurden, um so die Wahrheit zu verbergen.“ Zugleich trat dieser Herr Chandra Kumar Bose in die BJP ein. Ein durchsichtig angelegtes Spektakel, denn die Partei von Premier Modi braucht in Westbengalen dringend Publicity. Im politischen Leben des Landes spielt sie bisher nur eine untergeordnete Rolle, im Staatenparlament ist sie gar nur mit einem Abgeordneten (von 295) vertreten.
Den bengalischen Nationalismus spricht auch Frau Mamata Banerjee an. Sie ist Ministerpräsidentin des Bundesstaates und zugleich Chefin der stärksten Partei des Landes, des Trinamool Congress. Wider besseres Wissen verkündete sie auch jetzt noch, dass Bose nicht in den Kriegswirren umgekommen sei, sondern weiterlebte. Aber auch unterhalb der Gürtellinie wird gearbeitet. Plötzlich tauchte ein angebliches Schreiben Nehrus an den damaligen britischen Premier Clement Attlee auf, in dem Nehru Bose als Kriegsverbrecher bezeichnet haben soll. Obwohl von Historikern als Fälschung bezeichnet, wird suggeriert, dass der Brief Teil des freigegebenen Aktenpaketes sei. Prompt forderte die BJP von der Kongresspartei eine Entschuldigung „für diese ungeheure Tat“ Nehrus und eröffnete damit die gewünschte öffentliche Kontroverse.
Doch es gibt auch vernünftige Stimmen, wie die von Anita Bose-Pfaff. Subhash Chandra Bose hatte während seines Aufenthalts in Deutschland die Österreicherin Emily Schenkl geheiratet, 1943 wurde Anita als einziges Kind geboren. In einem Interview mit der Hindustan Times wünschte sich die Wirtschaftsprofessorin ein Ende der Diskussion um ihren Vater. All dies sei eine Beleidigung für ihn und für sie selbst. Auch ein großer Landsmann Boses, Nobelpreisträger Amartya Sen, meldete sich und legte nahe, dass die Diskussion nicht um den Tod, sondern um Leben und Wirken Boses geführt werden sollte. Insbesondere dessen Herangehen an Gleichheit und Gerechtigkeit, das sein politisches Wirken im kolonialen Indien auszeichnete, sei heute auf allen Gebieten dringend notwendig. „Gerade jetzt lebt im Land der Kommunalismus (geschürter Streit zwischen Religionen und Kasten – E.B.) wieder auf, der Säkularismus wird beschädigt“, erklärte Sen unter eindeutiger Bezugnahme auf die in Indien um sich greifenden hinduchauvinistischen Aktivitäten.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Gandhi, Indien, Narendra Modi, Nehru, Subhash Chandra Bose