von Hubert Thielicke
Auch für Santiago de Compostela, das Ziel der Pilgerschaft, gilt das alte Diktum: Viele Wege führen nach Rom. Sieht man von Nebenwegen ab, sind es auf der Iberischen Halbinsel vor allem fünf größere Wege, die den Pilger zur Jakobusstadt führen. Landläufig als der Jakobsweg schlechthin gilt der Camino francés – der Französische Weg. Weitere Pilgerwege sind der Camino primitivo – der Ursprüngliche Jakobsweg, der Nördliche oder Küstenweg, die Via de la Plata und schließlich der Camino português. Zu ihnen führt ein Wegegeflecht über ganz Europa, das sich in Frankreich zu mehreren Strängen vereinigt, die schließlich über die Pyrenäen führen. Angesichts ihrer Bedeutung für den interkulturellen Austausch erhob der Europarat die Wege der Jakobspilger in ganz Europa 1987 zur europäischen Kulturroute. Die UNESCO erklärte 1993 den Jakobsweg in Spanien zum Weltkulturerbe. Dieser Weg, insbesondere der Camino francés, bietet mehr als 1800 Bau- und Kulturdenkmäler. Einige haben selbst den Status des UNESCO-Weltkulturerbes, so im Norden Spaniens die Kathedrale von Burgos, die Denkmäler von Oviedo und des Königreiches Asturien, die Klöster San Millan de Yuso und de Suso, die Archäologischen Stätten in der Sierra de Atapuerca, Las Médulas mit seinen römischen Goldminen, die spätrömischen Befestigungsanlagen von Lugo und schließlich die Altstadt von Santiago de Compostela.
Seit Jahren steigen die Zahlen derer, die sich auf den Jakobsweg begeben und sich am Ziel, im Pilgerbüro von Santiago de Compostela, die Pilgerurkunde abholen. Allein 2014 wurden dort 237.385 Urkunden ausgegeben, im vergangenen Jahr waren es 262.355. Höhepunkte des Andrangs stellen die Heiligen Jahre dar, die immer dann begangen werden, wenn der Namenstag des Heiligen Jakobus – der 25. Juli – auf einen Sonntag fällt. So trafen 2010, im jüngsten Heiligen Jahr, 272.135 Pilger in Santiago ein. Das nächste fällt auf 2021.
Die Mehrheit der Pilger nutzt den Camino francés – von Frankreich über die Pyrenäen, durch Navarra, Rioja, Kastilien und Galicien nach Santiago, immerhin etwa 800 Kilometer. Ausgangspunkt für die Pyrenäenüberquerung ist Saint-Jean-Pied-de-Port, wo sich drei Pilgerwege vereinigen. Über den Ibaneta-Pass geht es ins spanische Roncesvalles. In der Gegend soll 778 die berühmte Schlacht stattgefunden haben, in der die einheimischen Basken die Nachhut des Heeres von Karl dem Großen vernichteten, bekannt auch durch das mittelalterliche Rolandslied. Nächste bedeutende Orte sind Pamplona, die Hauptstadt Navarras, und Puente la Reina mit der mittelalterlichen Brücke über die Arga.
Dort stößt der Camino aragonés auf den Hauptweg. Der auf dem Somport-Pass beginnende, nur knapp 150 Kilometer lange Aragonesische Weg besticht nicht nur durch Naturschönheiten, sondern auch durch kunsthistorische Highlights: die alten Königsstädte von Jaca (Aragón) und Sanguesa (Navarra) mit ihren meisterhaften romanischen Kirchen. Geheimnisvoll lugt in den Bergen das uralte Kloster San Juan de la Pena unter einem Felshang hervor. Jahrhundertelang soll hier der Heilige Gral aufbewahrt worden sein. Kurz vor dem Französischen Weg stößt man auf ein merkwürdiges Beispiel romanischer Baukunst – das achteckige Kirchlein Santa Maria de Eunate, das als Begräbniskapelle am Jakobsweg diente und wohl von den Templern erbaut wurde.
Am Hauptweg folgt auf Puente la Reina das nicht weniger ansehnliche Estella, im Mittelalter ein Sitz der Könige von Navarra. Bei den Pilgern besonders beliebt ist das Kloster von Irache, dort können sie sich an einem Weinbrunnen der gleichnamigen Firma laben. Auch die Weinregion Rioja steckt voller mehr oder weniger historischer Begebenheiten: Vor der Kirche von Viana ist der berühmt-berüchtigte Papstsohn und Söldnerführer Cesare Borgia bestattet, bei Clavijo soll sich der Heilige Jakobus der Legende nach als Schlachtenhelfer bewährt haben, indem er hoch zu Ross die Asturier zum Sieg über die Mauren führte, eben der sagenhafte „Matamoros“ – die „Maurentöter“.
Burgos, die alte Hauptstadt Kastiliens, überragen die Türme der gewaltigen gotischen Kathedrale. Unterhalb ihrer Vierungskuppel ruhen die Gebeine des spanischen Nationalhelden El Cid, der vor einem Jahrtausend in den Kriegen zwischen den christlichen und den muslimischen Teilkönigreichen berühmt wurde. Die Gräber der kastilischen Könige sucht man in der Kathedrale vergebens, sie liegen außerhalb der Stadt in den Klöstern Las Huelgas und Miraflores.
Burgos verlassend, betritt der Wanderer die Meseta, die Hochebene von Kastilien. Dafür stehen Städtchen wie Castrojeriz, Carrión de los Condes oder Sahagún. Die auf Römerzeiten zurückgehende Großstadt León dominiert die gotische Kathedrale mit wunderschönen Glasmalereien. Einzigartig auch die romanische Kirche San Isidoro, deren Krypta mit Königsgräbern auch „sixtinische Kapelle der Romanik“ genannt wird, denn ihre Wände schmücken Malereien, die einen Einblick in das Leben im 12. Jahrhundert geben.
In Astorga fällt der von Antoni Gaudi errichtete eigenartige Bischofspalast auf, den seine Eminenz jedoch heftig ablehnte, sodass sich darin heute ein Pilgermuseum befindet. Weitere Höhepunkte in den nun beginnenden Bergen sind Ponferrada mit seiner Templerburg und Villafranca del Bierzo mit der berühmten Pforte an der Iglesia de Santiago, deren „Funktion“ der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho in seinem Erstlingswerk „Auf dem Jakobsweg“ erklärt, dem mystischen Gegenstück zu Kerkelings Buch: „Im 12. Jahrhundert hatte ein Papst Pilgern, die auf dem Jakobsweg erkrankt waren und nicht mehr weiterwandern konnten, eine Art Notlösung zugestanden: Wenn sie das Tor der Vergebung durchschritten, gewährte er ihnen denselben Ablass wie den anderen Pilgern, die den Weg zu Ende gingen. Mit diesem Trick hatte jener Papst das Problem der Berge aus der Welt geschafft und die Pilgerzüge gefördert.“ Nach dem Hochtal des Bierzo fordern die Galicischen Berge dem Wanderer noch einmal alles ab, bevor Santiago de Compostela in Sicht kommt.
Wer die Menschenmassen auf dem Französischen Weg scheut, die dem Pilgern eigene Stille sucht, der ist heute mit den anderen Pilgerpfaden besser beraten. Der Camino Primitivo beginnt in Oviedo, der alten Hauptstadt Asturiens. Bei Cavadonga, in den nahe gelegenen Picos de Europa, wohl den schönsten Bergen Spaniens, sollen 722 die Asturier erstmals eine muslimische Truppe in die Flucht geschlagen haben, der „Startschuss“ für die Reconquista. Der Ort gilt heute als Nationalheiligtum. In Oviedo selbst zeugen die präromanischen Kirchen aus dem 9. Jahrhundert davon, dass sich damals der asturische Staat zu formieren begann. Um die Altstadt von Lugo ziehen sich gewaltige Stadtmauern aus römischer Zeit. „Durch dieses Tor betrat König Alfons II. der Keusche im 9. Jahrhundert die Stadt und begründete den ersten Jakobsweg“, informiert der Gedenkstein an der Porta San Pedro. In Arzúa trifft der Ursprüngliche Weg schließlich auf den Camino francés.
Mit den größten Entfernungen hat man es beim Camino del Norte, dem Nord- oder Küstenweg (etwa 900 Kilometer), und der Via de la Plata, der „Breiten Straße“ (circa 1000 Kilometer), zu tun. Der Nordweg beginnt in Irun bei San Sebastián und führt über Bilbao mit seinem Guggenheim-Museum und Gijón, wirtschaftliches Zentrum Asturiens, bis Arzúa, wo er ebenfalls auf den Hauptweg stößt. Reich an historischen Orten und Kunstdenkmälern ist die Via de la Plata, angefangen mit den Weltkulturerbestätten Sevilla, Cáceres, Mérida und Salamanca bis hin zu den alten Bischofsstädten Zamora und Ourense. Mit seinen fast 250 Kilometern ist dagegen der Camino português ab Porto schon fast beschaulich zu nennen. Er bietet die einzigartige Gelegenheit, einen Eindruck von beiden iberischen Ländern zu bekommen. Von Porto geht es über die Städtchen Barcelos und Ponte de Lima, einer der ältesten Orte Portugals, zum Grenzfluss Minho. Auf beiden Seiten des Flusses erheben sich Befestigungsanlagen – auf portugiesischer Seite die Festung Valenca, auf spanischer die trutzige Kirchenburg von Tui. Pontevedra und Padrón, der ehemalige Bischofssitz Iria Flavia, haben römische Wurzeln. Caldas de Reis bietet dem müden Wanderer eine ganz besondere Überraschung: die schon von den alten Römern geschätzten Thermalquellen. Ein Fußbad erleichtert den Weg auf den nur noch etwa 40 Kilometern bis Santiago. Dort steht der Pilger bewundernd vor der Kathedrale auf dem Praca de Obradeiro, „einem der schönsten Plätze der Welt“, wie der niederländische Erzähler Cees Nooteboom in seinem Buch „Der Umweg nach Santiago“ schrieb.
Unterwegs am Camino sollte man nicht zögern, Klöster zu besuchen, beispielsweise die Zisterzienserklöster von Santo Domingo de la Calzada (Rioja) oder Oseira und Sobrado dos Monxes in Galicien. Sie bieten nicht nur Herberge, sondern lassen den Pilger – Christ oder nicht – auch an Messen der Mönche teilnehmen und damit in eine für den modernen Menschen oftmals fremde spirituelle Welt eintauchen. Insgesamt stellt der Camino eine einzigartige „Zeitreise“ durch Geschichte und Kultur der Iberischen Halbinsel dar.
* – Fortsetzung des Beitrags mit gleichem Titel in Blättchen 2/2016.