18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Paradigmenwechsel der deutschen Außenpolitik

von Wilfried Schreiber

Um es gleich von vornherein klarzustellen: Wir sprechen hier nicht von einem Paradigmenwechsel, den die deutsche Außenpolitik gerade im Begriff ist zu vollziehen – darüber sollte vielleicht ebenfalls gründlicher nachgedacht werden –, sondern von einem Wechsel, der dringend ansteht, um die Frage von Frieden und Stabilität real in das Zentrum der internationalen Beziehungen Deutschlands zu stellen. Da unser Land, wie im Blättchen kürzlich betont, kriegsuntauglich ist – also jeder Krieg auf unserem eigenen Territorium zur Vernichtung der deutschen und europäischen Zivilisation führen könnte und auch jeder „ferne“ Krieg, an dem sich Deutschland beteiligt, destabilisierend zurückwirkt – müsste doch jegliche Kriegsverhinderung an allererster Stelle der deutschen Außenpolitik stehen. Sowohl die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aber auch des gerade 15 Jahre alten 21. Jahrhunderts bestätigen, dass es keine Alternative dazu gibt, alles für die Erhaltung des Friedens zu tun und keinerlei Krieg in Zentraleuropa oder seinem nahen Umfeld zuzulassen.
Nun soll der deutschen Außenpolitik gewiss kein blinder Bellizismus vorgeworfen werden – wohl aber doch eine deutliche Widersprüchlichkeit.
Einerseits war Deutschland durchaus an fragwürdigen Kriegshandlungen direkt beteiligt. Erinnert sei hier nur an die nicht von den Vereinten Nationen mandatierte Bombardierung Belgrads 1999 oder die Teilnahme am amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan, wo aus einem Stabilisierungseinsatz eine reguläre Kriegsbeteiligung wurde. Nicht unerwähnt soll hier auch die logistische Unterstützung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA gegen den Irak wie auch die eher indirekte Hilfe bei der Zerschlagung des libyschen Staates bleiben. Auch die auf Transformation und Regime-Change gerichtete Missionierungspolitik im Sinne des Exports der transatlantischen Demokratie in die Ukraine, auf den Balkan, in den Kaukasus und noch weiter in den Osten hat keineswegs zu mehr Demokratie, sondern teilweise zu „failed states“ und bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit einem gefährlichen Eskalationspotenzial geführt. Nicht zuletzt gehören in diese Aufzählung auch die deutsche Mitwirkung am Februar-Putsch 2014 in der Ukraine sowie die Beteiligung am Säbelrasseln der NATO gegenüber Russland. (Moskau bleibt seinerseits nichts schuldig.) Außerordentlich bedenklich ist die brandneue Einbeziehung der Bundeswehr in den „Krieg gegen den Terror“ auf dem Territorium Syriens. Mit der unmittelbaren Teilnahme deutscher Tornados an Kampfeinsätzen läuft Deutschland in die Falle des IS, der genau das erreichen will.
Andererseits kann den deutschen Bundesregierungen der letzten 25 Jahre – verglichen mit den bellizistischen Aktivitäten ihrer wichtigsten Verbündeten USA, Großbritannien und Frankreich – durchaus eine gewisse militärische Zurückhaltung bescheinigt werden. Die gegenwärtige Bundesregierung ist geradezu auffällig bemüht, die militärische Konfrontation zu Russland nicht ausufern zu lassen und das Minsker Abkommen umzusetzen. Ebenso sollen auch die diplomatischen Aktivitäten der Kanzlerin und ihres Außenministers gewürdigt werden, die Situation im Nahen und Mittleren Osten zu entspannen. Man möchte meinen, dass sich gerade an den Bemühungen zur massenhaften Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus den Krisengebieten des arabischen und nordafrikanischen Raums die Bereitschaft zeigt, Fehler in der Außenpolitik nachträglich zu korrigieren. Vielleicht kann man darin sogar deutsche Verantwortung erkennen, Krisen bewältigen zu wollen, zu denen Deutschland selbst mit beigetragen hat.
Allerdings sollte man „Krisenbewältigung“ keinesfalls als Kernaufgabe der deutschen Außenpolitik akzeptieren, obwohl sie gegenwärtig zweifellos diese Politik dominiert und auch von vielen Bürgern freundlich aufgenommen wird. Eine solche Außenpolitik ist aber kurzfristig und reaktiv. Sie steht primär unter dem Aspekt des politischen Machterhalts bei den nächsten Wahlen und lässt keine strategische Vision erkennen. Notwendig ist ein Paradigmenwechsel der deutschen Außenpolitik, der langfristig auf Krisenverhinderung, Stabilität und aktive Partnerschaft – also ausschließlich auf friedliche Beziehungen – abzielt. Deutsche Außenpolitik darf nicht länger den Krisen hinterherlaufen sondern muss ihnen zuvorkommen.
Kurz gesagt: Die deutsche Außenpolitik muss vor allem vorausschauender werden. Alle Krisen, in die Deutschland und die EU gegenwärtig verwickelt sind, waren vorhersehbar: der Konflikt in der und um die Ukraine, die Konfrontation mit Russland, die europäische Finanzkrise, die Griechenlandkrise, die Flüchtlingskrise. Letztlich kulminieren all diese Krisen in einer komplexen Systemkrise: Die EU droht auseinanderzufallen. Damit wird der außenpolitische Paradigmenwechsel zur existenziellen Bedingung für die Zukunft Europas.
Vorausschauende Außenpolitik bedarf eines realistischen Blicks auf die Wirklichkeit, der keine Schwarzmalerei, aber auch keine Schönfärberei zulässt. Vorausschauende Außenpolitik bedarf darüber hinaus der Einsicht, dass die auf Missionierung und Regime Change gerichtete Politik des transatlantischen Westens gescheitert ist. Syrien könnte die Erkenntnis bringen, dass Frieden und Stabilität wichtiger und humaner sind als der Sturz autoritärer Präsidenten. Mit einem autoritär geführten Staat kann man verhandeln, nicht aber mit einem „failed state“. Die Zerstörung der zwar autoritären aber zugleich einzigen säkularen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas – also des Irak, Syriens und Libyens – führte zu Bürgerkriegen, zu über einer Million Toten, zur Stärkung des Islamismus und zum Terror des „Islamischen Staates“. Gewiss sind die Ursachen des Chaos vielschichtig, aber die führenden Staaten der westlichen Welt tragen hieran die Hauptverantwortung. Diese Verantwortung ist jetzt gemeinsam zu tragen – und zu bezahlen.
Frieden im Nahen Osten wird man nicht herbei bomben können. Im Vordergrund muss ein politischer Lösungsansatz stehen, damit weiteres Blutvergießen gestoppt und weitere Flüchtlingsströme gebremst werden können. Dazu müssen sich vor allem die vereinigten Bombenwerfer an den Verhandlungstisch setzen. Im Fall Syrien sind das sowohl „demokratische“ als auch „autoritäre“ Staaten. Das Gleiche gilt für die Bewältigung des eher innereuropäischen Konflikts in der und um die Ukraine. Auch da wird das beidseitige Säbelrasseln mit seinem gefährlichen Eskalationspotenzial keine Lösung bringen, sondern nur geduldige Gespräche und Verhandlungen auf gleichberechtigter Grundlage.
Hier hat die Bundesregierung in der Tat eine besondere Verantwortung. Zugleich erhält sie für die Wahrnehmung dieser Verantwortung eine große Chance, indem sie am 1. Januar 2016 für ein Jahr den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übernimmt. Sie hat damit neue politische Spielräume und Möglichkeiten, um von der unseligen Politik der Konfrontation mit Russland und der wechselseitigen Abschreckung mit ihren Unwägbarkeiten, Gefahren und volkswirtschaftlichen Belastungen wegzukommen. Es könnte ein Weg der Rückbesinnung auf die Schlussakte von Helsinki sein, die vor 40 Jahren alle europäischen Staaten sowie die USA und Kanada unterzeichnet haben, um die Blockkonfrontation zu überwinden und schrittweise zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen. Mit der Charta von Paris hat die OSZE 1990 das Vermächtnis der vormaligen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und ihrer grundlegenden Prinzipien formal übernommen. Sie hat es aber bis heute nicht eingelöst. Stattdessen ist die OSZE zu einer Wahlbeobachterorganisation degradiert worden, die den Transformationsprozess der ehemaligen Ostblockstaaten nach dem Vorbild des transatlantischen Westens absichern sollte. Dieser Weg ist gescheitert und hat die OSZE zur Bedeutungslosigkeit verdammt.
Deutschland könnte die OSZE zu ihrer ursprünglichen politischen Funktion als Institution von inzwischen 57 gleichberechtigten Staaten zur Gewährleistung von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zurückführen. Das ist aber nur möglich, wenn Russland aktiv in einen Prozess der kooperativen Sicherheit für das gemeinsame Haus Europa einbezogen und die Unterschiedlichkeit der Interessen und gesellschaftlichen Strukturen der einzelnen Länder von allen akzeptiert werden.
Eines dürfte zweifelsfrei feststehen: Die nachlaufende „Krisenbewältigung“ für die aktuellen Konflikte in und um Europa herum, die für die nächsten Jahre unverzichtbar ist, wird Deutschland viel Geld kosten. Sehr viel Geld. Bei einem außenpolitischen Paradigmenwechsel zur vorausschauenden Krisenverhinderung und Friedenssicherung kann Deutschland langfristig viel Geld sparen. Sehr viel Geld.