von Edgar Benkwitz
Für den europäischen Betrachter dürfte es ziemlich egal sein, wie die Wahlen zum Parlament eines indischen Bundesstaates ausgehen. Die Indische Union besteht immerhin aus neunundzwanzig dieser Staaten und in jedem finden alle fünf Jahre Wahlen statt – in Indien ist also immer irgendwo Wahlzeit. Doch wenn die stärkste Partei des Landes, die in Neu Delhi über die absolute Mehrheit im Unterhaus verfügt und die Regierung stellt, eine eklatante Niederlage erleidet, erregt das schon Aufsehen. Und noch dazu in einem Bundesstaat, in Bihar, der zu den bevölkerungsreichsten, zugleich aber auch rückständigsten Indiens gehört.
Die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) verfügt in Bihar, das zum Hindi-Gürtel (volkstümlich auch Kuh-Gürtel) gehört, traditionell über Einfluss. Bei den letzten Wahlen zum indischen Unterhaus gewann sie 32 von 40 Parlamentssitzen. Nach Meinung vieler Beobachter standen ihre Chancen auch diesmal nicht schlecht. Doch allzu deutlich wurde, dass die BJP einen Wahlsieg herbei zwingen wollte. Sie brauchte ihn dringend, um ihr ramponiertes Image auf nationaler Ebene aufzupolieren, gleichzeitig sollte Einfluss auf die Zusammensetzung des indischen Oberhauses genommen werden. Hier blockieren die dominierenden Oppositionsparteien wichtige Gesetzesvorhaben, eine BJP-Mehrheit im Landtag von Bihar hätte dazu beitragen können, das Kräfteverhältnis zugunsten der Regierungspartei zu ändern.
Doch die Wahlniederlage – die BJP gewann nur 53 von 243 Sitzen – machte einen Strich durch diese Rechnung. Das Ansehen der Regierungspartei hat weiter gelitten und auch Premierminister Modi geht nicht unbeschädigt aus dem Geschehen hervor. Deutlich wird jetzt, was viele Beobachter vorausgesehen haben: die Wahrnehmung von gesamtnationaler Verantwortung ist nur schwer mit einem engen hindunationalistischen Herangehen zu vereinbaren.
Die schnelle Modernisierung des Landes reibt sich mit dem Festhalten an archaischen und überlebten Auffassungen. Obwohl sich die BJP, seitdem sie Regierungsverantwortung trägt, in einer Reihe von Fragen geöffnet hat und für grundlegende Entwicklungsfragen gesamtnationale Lösungen sucht, schlägt ihre Orientierung an einem eng gefassten Hindutum immer wieder durch. Das ist selbst bei vielen Aussagen von Narendra Modi festzustellen, dem man durchaus Weltoffenheit und auch zunehmendes Verständnis für die komplizierten Vorgänge in Indien bescheinigen muss. Doch Modi und einige seiner Mitstreiter, wie Finanzminister Jaitley, bestimmen nicht allein den Kurs der BJP. Sie ist nur der politisch-parlamentarische Arm der straff organisierten hindunationalistischen Bewegung. Neben ihr – und in Personalunion mit ihnen verbunden – stehen zwei andere einflussreiche Organisationen, die RSS als Kaderschmiede und ideologische Vorhut und der VHP als Propaganda- und Massenorganisation.
Besonders die RSS wacht über die Reinheit des Hindutums und beschwört eine angeblich tief in der Tradition verankerte religiös-kulturelle Hindu-Identität. Von ihr initiierte Kampagnen sollen dieses Gedankengut wach halten. Jüngstes Beispiel dafür ist die landesweite Hasswelle gegen den Verzehr von Rindfleisch (die heilige Kuh der Hindus!), die in Gewalttaten bis zum Totschlag durch fanatisierte Hindugläubige ausgeartet ist. Im Kern richtet sie sich gegen alle, die eine andere Glaubens- und Lebensweise pflegen, vor allem Muslime und Christen, aber auch gegen die große Schar der aufgeklärten Hindus. Man kann davon ausgehen, dass bei den Wahlen in Bihar (wo 18 Prozent der Bevölkerung Muslime sind) kaum ein Muslim die BJP gewählt hat, obwohl die Partei sich mit großen Entwicklungsversprechen um diese rückständige Bevölkerungsgruppe bemüht hatte. Passte diese Kampagne mit all ihren Begleiterscheinungen schon gar nicht in die BJP-Wahlaktivitäten, so löste das Auftreten des RSS-Führers zu Beginn des Wahlkampfes blankes Entsetzen aus. Er, der Brahmane, schlug vor, die umfangreichen staatlichen Fördermaßnahmen für Kastenlose und Angehörige von niederen Kasten zu überdenken. In Bihar, das wie kein anderes Bundesland durch diese Kastenschichten geprägt ist und in der Vergangenheit von den Fördermaßnahmen profitierte, lief das den BJP-Bemühungen total zuwider und lieferte dem politischen Gegner eine Steilvorlage.
Natürlich gab der RSS-Boss Bhagwat dazu keine Begründung ab. Doch dürfte zutreffen, dass ihm die BJP zu eigenständig geworden war, insbesondere ihre Fixierung auf Narendra Modi, der an nationaler Statur gewonnen hat. Mit der Intervenierung in einen erfolgreich angelaufenen Wahlkampf wollte er zeigen, wer die wirkliche Macht in seinem Hindu-Reich besitzt.
Heute leckt die BJP-Führung die Wunden, die ihr von Freund und Feind zugefügt wurden. Einzelne Stimmen werden laut, so von ihrem Generalsekretär, dass es in der Sangh Parivar (der Hindu-Familie, bestehend aus den drei oben genannten Organisationen) so nicht weitergehen könne. Interessenkonflikte, nicht abgestimmtes Vorgehen und Vorpreschen mit Einzelmeinungen müssten zukünftig vermieden werden. Doch eine tiefere Auseinandersetzung zwischen BJP und RSS ist kaum zu erwarten, ist doch selbst Narendra Modi wie viele seiner Ministerkollegen ein Kind der mächtigen RSS, in ihr erzogen und zum Politiker gemacht. Und die RSS wiederum braucht die BJP, die sie einst ins Leben gerufen hat, denn sie soll ja letztendlich einmal die Vorstellung von einem Hindureich in ganz Indien verwirklichen.
Nach der Wahl ist vor der Wahl – das gilt in Indien immer, die Karten werden neu gemischt. Im Frühjahr wird im Bundesstaat Assam gewählt, bisher von der Kongresspartei regiert. Später dann in den großen Bundesstaaten Westbengalen und Tamilnadu, wo starke Regionalparteien fest im Sattel sitzen. Beide stellen schon seit langem eigene regionale Machtzentren dar, die einen moderaten bengalischen beziehungsweise tamilischen Nationalismus pflegen. Das Verhältnis beider Staaten zum Machtzentrum Neu Delhi ist so oft Belastungen ausgesetzt. Obwohl die Bevölkerung auch hier in der überwiegenden Mehrheit Hindugläubige sind, hält man Distanz zu den hinduistisch-fundamentalistischen Bestrebungen, wie sie vor allem in Mittel- und Nordindien anzutreffen sind. Die BJP wird sich auf diese Gegebenheiten einstellen müssen, wenn sie nicht wieder ein Wahldebakel wie in Bihar erleben will. Richtige Lehren ziehen würde vor allem heißen, hinduchauvinistische Ausfälle sofort in die Schranken zu weisen und mit aller Regierungskompetenz, einschließlich des Premierministers, zu verurteilen. Dann wäre er wirklich der „Regierungschef aller Inder“, wie Narendra Modi sich selbst gern bezeichnet.
Um die vorgesehenen großen Entwicklungsprogramme endgültig auf den Weg zu bringen, braucht es Kooperation auf der politisch-parlamentarischen Ebene. Nur in der Zusammenarbeit der BJP mit anderen Parteien kann auch die im Grunde lächerliche Blockadehaltung der Opposition im Oberhaus überwunden werden. Doch dafür muss die BJP ihre Arroganz, die letztendlich auch in dem überzogenen Hindunationalismus begründet ist, überwinden und auf mögliche Bündnispartner zugehen. Doch kann die BJP über ihren Schatten springen?
Noch ein Wort zur Lage in Bihar. Die Wahlen waren kein Ruhmesblatt für das heutige Indien. Alle Parteien setzten vorwiegend auf den Faktor Kaste, deren Strukturen hier noch besonders ausgeprägt sind. Am erfolgreichsten waren regionale Parteien, voran die RJD, die 80 Sitze errang, vornehmlich aus der unteren Kaste der Yadavs sowie der Muslime. Ihr Bündnispartner, die JD-U errang 71 Mandate, zumeist durch die Stimmen der Kastenlosen. Zusammen mit der Kongresspartei, die im Fahrwasser ihrer beiden Partner schwamm und so auf überraschende 27 Mandate kam, bilden diese drei Parteien die neue Staatenregierung mit dem bisherigen Ministerpräsidenten Nitish Kumar an der Spitze. Ihr wird eine kurze Lebensdauer vorausgesagt, zu tief waren in der Vergangenheit die Gegensätze zwischen dem frisch gekürten Regierungschef und seinem starken Partner, Lalu Prasad Yadav von der RJD. Auch er ist ehemaliger Ministerpräsident, verlor aber wegen Korruption für sich und seine Kaste sein Amt und wurde verurteilt. Nur mittels einer Kaution konnte er am Wahlkampf teilnehmen und ist jetzt bemüht, seinen Einfluss über seine Söhne, die beide gewählt wurden, durchzusetzen.
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