von Wolfgang Schlott
Wenn das Böse, hinter der Maske der Banalität (Hannah Arendt) getarnt, uns beim Rückblick auf das 20. Jahrhundert immer wieder angesichts seiner verheerenden Auswirkungen in schiere Verzweiflung treibt, dann ist, nach zahlreichen missglückten Versuchen, seines Wesens in moralischer und ethischer Wertung habhaft zu werden, zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Zeitpunkt gekommen, seine Täter in internationaler strafrechtlicher Hinsicht zu entlarven, mehr noch: sogar ihre Bestrafung zu erwirken. Diese Zielstellung in dem methodischen Ansatz der beiden Autoren des vorliegenden Lexikons mit 168 Schandnamen würdigt Heribert Prantl in seinem Geleitwort.
Er beginnt seine Reflexionen mit dem Bekenntnis einer himmelschreienden Trostlosigkeit, die sich bei der Lektüre einstelle. Ungeachtet der Einsicht, dass, wie die Jahresberichte von Amnesty International bestätigen, sich da und dort materielle Zustände im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte verbessert hätten und Gefangenenlager in verschiedenen Diktaturen geöffnet wurden, bleibe die Erkenntnis, dass neue Staatsverbrecher den alten folgten und ein Unhold im Staatsamt sich an den anderen reihe. Doch seit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, dessen erste Urteile zur Hoffnung Anlass geben, zeichne sich eine Wende ab.
Worin aber besteht nun die neue Erkenntnis, die uns dieses Lexikon der Schande bietet? In ihm stehen die Namen der zahlreichen Diktatoren und Putschisten, die in der westlichen, südlichen und östlichen Hemisphäre ihre gigantischen Verbrechen vollbracht haben, neben denen von Mafia-Gangsterbossen. In dem Wirkungsgrad ihrer bestialischen Verbrechen? In der Zielstellung ihrer völkermordenden Aktionen? In der Zuschreibung von Personen, die Urheber und Auslöser schwerer Verbrechen waren? Bereits eine überblicksartige Lektüre der aufgelisteten Namen und Portraits überrascht den Leser. US-Präsidenten der jüngsten Vergangenheit stehen neben den Schandnamen der Naziverbrecher, afrikanischen und südamerikanischen Diktatoren, türkischen Befehlshabern des Genozids an den Armeniern, belgischen, französischen und portugiesischen Kolonialverbrechern, den Diktatoren im Vorderen Orient und in Südostasien, den Militärs im jugoslawischen Bürgerkrieg der frühen 1990er Jahre und nicht zuletzt neben den sowjetischen und chinesischen völkermordenden Verbrechern.
Was aber ist „böses Verhalten“? Ausgangspunkt der wertenden Betrachtung ist den Autoren, dem Juristen Till Zimmermann und dem Historiker Nikolas Dörr, das Prinzip der Gleichwertigkeit der Menschen. Jeglicher Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit, in die Freiheit ihres Handelns, ihres Willens, ihrer Fortbewegung wie auch ihrer sexuellen Selbstbestimmung stellt eine Diskriminierung dar, die strafrechtlich zu ahnden ist. Aus dieser Aufzählung ergibt sich eine Liste von Verbrechen, die im Abschnitt III erläutert werden, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Friedensverrat, Kriegsverbrechen, Mord, Racketeering (Gangstertum), Terrorismus, Freiheitsverrat, Drogenhandel, Waffenhandel und Wahlbetrug. Sie sind im Kapitel IV, in dem die Gesichter der Verbrecher abgebildet sind, mit Legenden versehen, die die Art der Verbrechen den jeweiligen Namen zuordnet.
Auf den ersten Blick mögen einige Verbrechen, wie zum Beispiel Friedensverrat oder Freiheitsverrat, dem nicht eingeweihten Leser zunächst unverständlich sein. Doch die sorgfältige Lektüre der vorhergehenden Abschnitte „Verbrecher – Wer tut etwas Böses“ und „Die Auswahl der Gesichter des Bösen“ wird ihn davon überzeugen, dass zurechenbares verbrecherisches Verhalten nicht nur in aktiver, sondern auch in passiver Hinsicht vorliegt, wenn etwa ein verantwortlicher Funktionär abwartet, bis Millionen Menschen den Hungertod erleiden – wie 1932/33 in der Ukrainischen Sowjetrepublik auf Befehl Stalins. Was in dem einen Fall zu keinen strafrechtlichen Konsequenzen führen konnte, hat zumindest einigen großköpfigen Tätern des Nazireiches später die gerechte Strafe gebracht.
Und die Auswahl der Gesichter des Bösen? Die Verfasser, die sich auf die bisherigen Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft berufen, sind vorsichtig bei der Zuordnung der Schurken. Man habe zunächst großen Wert darauf gelegt, historische Ereignisse anhand der dargelegten juristischen Verbrechensdefinitionen zu klassifizieren und zu werten. Dabei habe man auch Fehlurteile von Historikern wie jenes über angeblich gerechtfertigte Flächenbombardements der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg oder den Abwurf der Atombombe auf Nagasaki zurückgewiesen, weil die durch sie erwirkten mörderischen Taten vom Standpunkt des Völkerrechts als Verbrechen zu bezeichnen sind. Andererseits enthalte, wie die Autoren selbst einräumen, die vorliegende Dokumentation auch ein gewisses Element der Willkür, weil zunächst aus räumlichen Gründen nur eine Auswahl von 150 Tätern getroffen werden konnte, die dann um 18 Personen erweitert wurde. Auch hinsichtlich des Zeitraumes, in dem die Verbrechen geschahen, liege eine Einschränkung vor. Man habe sich auf Personen konzentriert, „deren Taten das Ansehen der Menschheit in den Jahren ab 1900 beschmutzt haben“.
Und die genaue Berechnung der Schuldschwere? Man habe ungeachtet aller subjektiven Empfindungen im Hinblick auf die Bewertung der allergrößten Verbrechen „so weit wie möglich objektive und nachprüfbare Auswahlkriterien berücksichtigt“, die dann noch einmal in der Auflistung von sechs Punkten spezifiziert werden.
Im Kapitel IV sind die Kurzbiographien der Verbrecher auf rund 240 Seiten abgedruckt, nebst deren Portraits und Abbildungen von Dokumenten und Fotografien, die oft die Auswirkungen ihrer Verbrechen zeigen. Auf diese Weise wird gleich zu Beginn der Dokumentation dem Verbrecher Léopold Louis Philippe Marie Victor, König Léopold II. von Belgien (1869-1906), bescheinigt, dass man ihn folgender Verbrechen beschuldigt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord und Racketeering, und wer es nicht glauben will, der lese nach: Mindestens zehn Millionen Kongolesen sind während seiner Herrschaft im Kongo ums Leben gekommen, Sklavenarbeitern wurden schon bei geringfügigen Vergehen zur Strafe Hände abgehackt. Die von diesem Monarchen zu verantwortenden Verbrechen sind in zahlreichen Abhandlungen dokumentiert. Und der belgische Staat? Er widmet Léopold II. 2007 eine Gedenkmünze (auch in Gold) im Werte von 12, 50 Verbrechen.
Wem an dieser Stelle die Galle überläuft, wer sich kopfschüttelnd Seite um Seite durch diese Welt des Bösen blättert, wer um Atem ringt angesichts der Fratzen, die – im Habit ehrbarer Biedermänner – sich auf dem internationalen Parkett bewegten und dort sowie auch in ihren Ländern Anerkennung genossen, der wird im Übrigen weiterführende Antworten in anderen Bänden der Reihe „Geschichte & Frieden“ des Bremer Donat-Verlags finden, als deren Band 34 die hier besprochene Publikation erschienen ist.
Till Zimmermann / Nikolas Dörr: Gesichter des Bösen. Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunderts, Donat Verlag, Bremen 2015, 288 Seiten, 19,80 Euro.
Wolfgang Schlott, Jahrgang 1941, ist Kultur- und Literaturwissenschaftler, war lange Jahre an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen tätig – mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte Osteuropas und Kunstgeschichte – und ist seit 2006 Präsident des Exil-P.E.N. Deutschsprachiger Länder. Schlott lebt in Bremen.
Schlagwörter: das Böse, Nikolas Dörr, Till Zimmermann, Wolfgang Schlott