von Arndt Peltner, Oakland
Amerika ist das Land der Einwanderer. Aus aller Welt kamen Immigranten ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, um hier ihren „American Dream“ zu verwirklichen. Doch sie waren nicht vom ersten Tag an Amerikaner. Vielmehr brachten sie ihre eigene Kultur und ihre Sprache mit in die Neue Welt. Und viele von ihnen pflegten diese kulturellen Wurzeln.
Fast zehn Jahre lang hat der Musikethnologe James Leary, Professor an der Universität von Wisconsin in Madison, an diesem Thema gearbeitet. Herausgekommen ist die fünf CDs und eine DVD umfassende Box „Folksongs of another America“, die sich mit der Musik des „Upper Midwest“, des oberen Mittleren Westens beschäftigt. Das sind Wisconsin, Minnesota und Michigan. Eine Gegend, die lange Zeit kaum beachtet wurde, doch, wie Leary zeigt, eine kulturelle und sprachliche Vielfalt vorweisen kann wie kaum eine andere Region Amerikas.
Bereits in den 30er Jahren war vielen im bürokratischen Washington klar, dass sich im „Upper Midwest“ etwas Besonderes entwickelt hat. Gleich mehrere Musikethnologen wurden losgeschickt, um diesen Reichtum an Liedgut zu dokumentieren und zu sammeln. Allen voran Sidney Robertson, Alan Lomax und Helene Stratman-Thomas. Die drei zogen getrennt – immer mal wieder und über einen Zeitraum von mehreren Jahren – durch die Gegend und nahmen Musiker, Sänger und Gruppen auf. In Konzertsälen, in Kirchen, auf Festen, Terrassen, in Küchen und Wohnzimmern. Für James Leary ist klar, dass die drei Soundsammler nicht nur die Kulturvielfalt und den Pluralismus zeigen wollten. „Ich denke, sie haben auch erkannt, dass nach ein paar Generationen die Kinder und Enkel nicht mehr die Sprache ihrer Vorfahren sprechen. Es gibt also diesen kritischen Moment, wenn man noch in der Lage ist, dieses Material zu sammeln.“
Und das taten Lomax, Robertson und Stratman-Thomas zu genüge. Mehr als 2000 Aufnahmen kamen so zusammen, die in der Library of Congress archiviert wurden. Es sind Feldaufnahmen, die eine Region Amerikas präsentieren, wie sie so noch nie zu hören war. Leary hat für „Folksongs of another America“ 186 Lieder ausgewählt, die repräsentativ für die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Region sind. Das reicht von finnischen bis serbischen Songs, von französischen bis litauischen, dänischen, walisischen, polnischen, luxemburgischen, Schweizer und deutschen Liedern…und vielen mehr.
Wer von der amerikanischen Folk Music spricht, denkt vor allem an die englischsprachigen Lieder. Doch Amerika, das zeigt auch diese Veröffentlichung, hat viel mehr zu bieten. James Leary weiß, dass lange Zeit die fremdsprachigen Lieder der Einwanderer nicht beachtet wurden, auch wenn sie von den drei Musiksammlern für die Library of Congress schon früh aufgezeichnet wurden. Von Seiten der Regierung wurde jedoch ein „English only“ ausgegeben, die Songs der Finnen, Deutschen, Slowenen und der vielen anderen Volksgruppen verschwanden im Archiv. 75 Jahre später wollte Leary jedoch zeigen, dass Amerika ein Land der kulturellen Sprachenvielfalt ist. „Viele der frühen Siedler in den Vereinigten Staaten, bevor das Land überhaupt eine Nation wurde, sprachen eine andere Sprache als Englisch. Deutsch, Holländisch, Schwedisch, diese Sprachen sind genauso legitim. Ich denke also, es ist sehr wichtig, diese Lieder als amerikanische Lieder zu präsentieren und sie denen vorzuhalten, die glauben, jeder sprach hier sofort Englisch und, dass nur das Englische das richtige ist.“
Die Veröffentlichung dieser CD-Box dauerte Jahre. Leary musste die alten und verstaubten Aufnahmebänder in den Archiven finden, durchhören, teils bereinigen und alle digitalisieren. Er suchte nach weiteren Informationen und Fotos, die in den Originalnotizen der drei Ethnologen nicht vorhanden waren, kontaktierte Nachfahren der Musiker und übersetzte alle fremdsprachigen Lieder mit Hilfe von Kollegen der Fremdsprachenabteilungen der University of Wisconsin. Eine Ausnahmeleistung, die jedoch erst den ganzen Wert des Kulturmischmaschs des oberen Mittleren Westens für den Hörer zugänglich macht. Und obwohl man hier nur alte Aufnahmen hört, ist die eigentliche Botschaft dieser visionären Arbeit aus den späten 30er und frühen 40er Jahren für James Leary klar: „Heute sorgt man sich in Amerika über die Einwanderung, was die Immigranten mitbringen und ob sie überhaupt ins Land gelassen werden sollen. Und genauso ist es ja auch in Europa. Ich finde, diese Lieder zeigen, dass Neuankömmlinge in einem Land, auch wenn sie Teile ihrer Sprache, ihrer Kultur und Tradition behalten, zur gleichen Zeit offen sind und etwas im positiven Sinne beisteuern. Wenn man sich das ansieht, wie es damals war, kann das eine gute Lektion für heute und morgen sein.“
Die CD- und DVD-Sammlung „Folksongs of another America“ ist als eine Kooperation zwischen Dust to Digital Records und der University of Wisconsin Press erschienen.
Schlagwörter: Amerika, Arndt Peltner, Folksongs, Immigranten, James Leary, Library of Congress