von Literat
Wenn Bücher beieinander sind – ob nach Größe oder überhaupt nicht geordnet, also liegen, stehen per Zufall so, oder weil vom Nutzer doch ein Zusammenhang hergestellt –, bietet sich trotz aller Zufälligkeit der Versuch zu einem Vergleich an. Aber wie? Als Modell kann man da mit „Grund-Sätzen“ agieren, die vermutlich ohne vorherige gegenseitige Kenntnisnahme manch überraschende Übereinstimmung zu Tage fördern, die mehr ist als schöne Buchgestaltung. Alles Zufall?
„Etwas stimmt ganz und gar nicht, und dieses Buch ist der Versuch, mein eigenes Unbehagen in Worte zu fassen. Denn es scheint, als würde sich die Welt nicht nur immer stärker beschleunigen, sondern dabei auch zunehmend aus dem Takt geraten. Als gäbe es mehr Angst und weniger Leichtigkeit. […] Damit einher geht eine ganz bestimmte Art und Weise, die Welt zu sehen. Das ist ein kühler Blick, der abwägt, was nützlich und was überflüssig ist, wo man sparen kann und wo man investieren sollte. […] Was macht es mit dem Menschen, wenn es sowohl vernünftig als auch gerecht erscheint, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein? Er neigt dazu, sich dieser Erwartung anzupassen. Weil er alles richtig machen will. Und weil wir Menschen von Natur aus ziemlich egoistisch sind.“ Und was könnte/sollte man dagegen machen, falls man als Autorin über die dann folgende Beschreibung verschiedener pro-typischer Figuren hinaus beim Leser mehr als Zustimmung hervorrufen möchte? Titel und Text benennen weniger den Weg, wohl aber einen, zwar sehr individuellen, Ausweg: „Du sollst nicht funktionieren“. Dies ist Gebot und Botschaft einer offenbar gesellschaftlich potenten und aktiven Frau von heute in diesem zweiten Buch.
Ihr erstes, „Der Tanz um die Lust“, erregte seiner Zeit ziemlich viel Aufsehen. Einleitend zu einem Gespräch mit ihr informierte damals die taz so („Die Frau von der Triebabfuhr“): „Die 28-jährige Studentin Ariadne v. Schirach hat ein pornographisches Buch gegen die Pornografisierung der Gesellschaft geschrieben“. Das Interesse hatte aber wohl auch noch einen zusätzlichen Grund, handelt es sich doch um die Enkelin des Baldur Benedikt von Schirach, seinerzeit – zunächst als „Reichsjugendführer“, dann „Reichsstatthalter von Wien – auch hymnisch tätig, im Nürnberger Hauptprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt. Ob der Titel ihres hier behandelten Buches davon auch geprägt ist?
Der Autor folgenden „Grund-Satzes“ könnte wohl auch darüber viel enthüllen: „Längst haben die Zeiten sich geändert […] aber welch einem ‚Beamten’ im ‚Dienst’, welch einem ‚ausgewachsenen’ Funktionalisten und Traditionalisten könnte es schon Eindruck machen, dass seine Arbeitsanweisung, d. h. in diesem Falle buchstäblich seine Weltanschauung hoffnungslos veraltet ist? Statt innezuhalten, nachzudenken und sich eine eigene Korrektur zu getrauen […] bleibt er das Opfer der Umstände, die ihm vorschreiben, was zu tun ist, und mit all seiner Geschäftigkeit entgeht ihm sein eigenes Geheimnis: dass er inmitten der Unrast all seiner Arbeit ein Mensch ohne Willen, ein arbeitsscheuer Faulpelz, ein Ruhesüchtiger ist, der niemals seine Ruhe findet, eben weil er nichts als seine ‚Ruhe haben’ will.“ Das sind doch tendenziell ähnliche Befunde.
Dieser stammt von Eugen Drewermann aus seiner Schrift „Das Eigentliche ist unsichtbar“, dessen eigentliches Thema die tiefenpsychologische Deutung einer literarischen Figur ist, von der Autor und Verlag sagen: „Wir kennen ihn alle, den ‚Kleinen Prinzen’ des weltberühmten Dichters Antoine de Saint Exupéry. Es ist der ewige Traum verlorener Kindheit, der den ‚Kleinen Prinzen’ so trostreich und sympathisch macht. Folgen wir mit Spannung Eugen Drewermanns einfühlsam erzählter Deutung bis hin zur Aufschlüsselung des Bildes von der geheimnisvollen Rose.“ Ja das auch; aber der öffentlichkeitsbewusste und veröffentlichungserfahrene Theologe, Allgemein-Wissenschaftler und ausübende Therapeut beschränkt sich keineswegs nur darauf, sondern nutzt die Möglichkeit, auf drei Ebenen kunstvoll zu agieren und den Gehalt in einer Art „öffentlicher Vorlesung“ zu verkünden: Die kommentierende Mitteilung, was da in dem vielleicht einzig bleibenden „Märchen des 20. Jahrhunderts“ wirklich drinsteht, in Bildern, auch Chiffren, die sachlich-fachliche tiefenpsychologische Analyse des berühmten Autors mit zahlreichen Informationen zu diesem Menschen und seiner Zeit, sowie deren Position und Funktion im historischen Ablauf der Menschheitsgeschichte. Dazu die Draufsicht des Eugen Drewermann auf „Alles“, auch zur Gegenwart. Und da wird das vergleichbare Unbehagen, wie bei von Schirach, manifest: Offenbar handelt es sich also um Befindlichkeiten der ganzen Gesellschaft bei aller Beachtung und Betonung der „Einmaligkeit“ jedes einzelnen Individuums.
Für diese Art Bestandaufnahme gilt wohl auch, dass es bei jeglicher Literatur zu Zeiten der Überfülle im Angebot einer Art Fern-Draufsicht nebst Querschnitt bedarf, also der Aufarbeitung anderen Materials. Das bedient Drewermann hier für viele Bereiche des Wissens und der Wissenschaften gründlich, verbunden mit der Prüfung nach Alltags-Tauglichkeit als Lebenshilfe; selbst im engsten Sinne, als Anwendung im psychisch-medizinischen Bereich. Auch mit apodiktischen Urteilen zum Gegenstand, etwa so: „Bei Exupéry […] verkörpert ‚Der Kleine Prinz’ nur den Traum eines Lebens, wie es eigentlich gelebt werden sollte, aber längst vor der Zeit zerstört wurde…“. Da ist es hohe Zeit, sich den sybillinischen Titel vom Autor dechiffrieren zu lassen: „Es steht für Exupéry fest, dass die Menschen nicht nur wissen wollen, wovon sie leben, sondern dass sie, weit wichtiger, um leben zu wollen, unbedingt wissen müssen, wofür sie da sind, und dieses sinngebende Ziel ihres Lebens ist niemals ein Ding, sondern der Sinn, der die Dinge verknüpft – etwas Unsichtbares, dass nur mit den ‚Augen des Herzens’ zu sehen ist… “. Das wird abgehandelt, mit Verzweigungen vor allem der Tiefenpsychologie – dies ist fast ein eigenes Buch über die Thematik hinaus –, und zu allem reichlich Quellen und Anmerkungen.
Zu lösen sind die Dilemmata von Mensch und Gesellschaft zwar nicht mit dem Beklagen derselben und dem Appell: „Wir müssen etwas – und anders machen“. Aber zur Entlastung beim eigenen Unbehagen kann diese anregende, angenehm lesbare Draufsicht als Information und Therapie-Beihilfe durchaus nützlich sein.
Ariadne von Schirach: Du sollst nicht funktionieren, Tropen Sachbuch, Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2014, 185 Seiten, 17,95 Euro.
Eugen Drewermann: Das Eigentliche ist unsichtbar, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015, 208 Seiten, 16,99 Euro.
Schlagwörter: Ariadne von Schirach, Eugen Drewermann, Kindheit, Literat, Mensch und Gesellschaft