von Heerke Hummel
Gerade haben sie wieder den Lichterglanz der Vorweihnachtszeit bestaunt, aber das Fest nicht gefeiert, obwohl sie doch an Jesus Christus glauben – die Zeugen Jehovas. Misha Anouk erinnert sich an seine Kindheit und Jugend: „Alle feierten Weihnachten. Nur wir nicht. Na ja, wir und die anderen Zeugen Jehovas. Man fand die Weihnachtsdeko schön, schmückte aber das eigene Haus nicht. Man betrachtete die Spielsachen im Laden und wusste, dass sie in allen Kinderzimmern außer dem eigenen landen würden. Und in der Schule stand man stumm und einsam inmitten der Weihnachtslieder singenden Klassenkameraden und fühlte sich wie der letzte Vollidiot. Ja, Weihnachten war die ambivalenteste Zeit des Jahres.“
In seinem Buch „Goodbye, Jehova!“ schildert der in diese Glaubensgemeinschaft Hineingeborene sein Leben in einem religiös besonders engagierten Elternhaus bis zu seinem Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft und aus der Familie. Zweiundzwanzig Jahre alt war er da, von Widersprüchen erfüllt und von Zweifeln geplagt. Er vermittelt dem Leser Einblicke in die Entstehung und den Werdegang dieser Sekte sowie in den Kern und das Wesen ihres Glaubens. Als ein Mitglied, dem dank seiner Herkunft aus einer Dynastie treuer Anhänger eine bedeutende Karriere in der hierarchisch konstruierten Organisation hätte bevorstehen können, vermag Anouk das Machtgefüge der Zeugen Jehovas und dessen Wirkungsweise aufzudecken. Was er darlegt, ist weitestgehend von ihm selbst erlebt worden. Und seine Motivation zu schreiben waren weder Hass noch Rache, sondern das Bedürfnis eines Dissidenten, aufzuklären und damit dem Glauben an Gott zu dienen.
Das Spannende, was dieses Buch sozusagen für jedermann zu einer interessanten Lektüre machen kann, sind nicht nur die vielen ganz konkreten, irgendwie den Glauben betreffenden Einblicke ins tägliche Leben und Wirken der etwa acht Millionen Mitglieder weltweit zählenden Randgruppe von Christen. Mehr noch sind es Konflikte als Begleiterscheinungen hierarchischer Strukturen ganz allgemein, wo es um Macht und Machtsicherung geht. Zielvorgaben erfordern eiserne Disziplin, um sie zu erreichen. Und sie bringen oftmals Tricksereien bei der Abrechnung mit sich, die der Wahrheit widersprechen; und damit dem, was zum Beispiel diese Glaubensrichtung mit ihren Predigerdiensten den „Ungläubigen“ an den Wohnungstüren vermitteln will. Dem Autor brachten Zweifel und Fehlverhalten eine „Rechtskomitee-Verhandlung“ ein, die mit seinem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen endete.
So manchen ehemaligen Parteisoldaten der „Avantgarde des Proletariats“ dürften diesbezügliche und andere Schilderungen Anouks an sein Parteileben und irgendwelche Parteistrafverfahren erinnern, die ihm vielleicht widerfuhren oder denen er beiwohnte. Hier wie dort gab es bestimmte Keuschheitsgebote, denen widersprechende Liebschaften und sonstige Zuwiderhandlungen, für die sich Mitglieder – oftmals auf Grund von Denunziationen – zu verantworten hatten. Doch während in den Parteiapparaten des Realsozialismus sich die Strenge im Verlaufe von Jahrzehnten allmählich lockerte, das Parteileben sich normalisierte, haben die „Leitende Körperschaft“ in New York und die „Ältesten“ in den Gemeinden ihre Hörigen nach wie vor fest im Griff.
Bei Anouk klingt das so: „Die Inhalte aller Publikationen, die die Wachtturm-Gesellschaft herausgibt, werden von der Leitenden Körperschaft kuratiert. Sie allein entscheidet, was zum Bildungskanon der Zeugen Jehovas gehört – auch wenn sie nicht alle Artikel selbst schreibt. Niemand sonst darf Lehren im Namen der Zeugen Jehovas verbreiten. Die Bibelexegese ist ein Privileg, das der Leitenden Körperschaft vorbehalten ist und nur von ihr delegiert werden darf. In ihrer Selbstwahrnehmung sind die Mitglieder die Erfüllung der Bibelprophezeiung des ‚treuen und verständigen Sklaven‘, der Gottes Volk mit ‚geistiger Speise‘, wie die Wachtturm-Gesellschaft ihre Publikationen in gewohnt blumiger Sprache nennt, versorgen soll. Nur die Leitende Körperschaft darf das. Niemand anders.“ „So kann“, zitiert Misha Anouk aus einer Veröffentlichung der Wachtturm-Gesellschaft (WTG) des Jahres 2008, „die leitende Körperschaft durch ihren Aufbau die Führung unter der Leitung des heiligen Geistes übernehmen, wie Jehova es möchte.“ Wer‘s glaubt, wird selig? Man darf es bezweifeln!
Reformversuche Einzelner auf höchster Ebene wurden bisher erfolgreich unterbunden – auch dies im Unterschied zu den großen Umbrüchen im weltlich-politischen Bereich gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und Asien. Im vorliegenden Buch erfahren wir von der Affäre um Raymond Victor Franz, dessen Onkel Frederik William Franz von 1978 bis zu seinem Tode im Jahre 1992 Präsident der Wachtturm-Gesellschaft war und dank seiner unvergleichlichen Bibelexegese als das „Orakel“ der WTG galt. Raymond soll nicht weniger bibelfest gewesen sein. M. Anouk berichtet von ihm: „Während seines Lebens klapperte er alle Stationen einer typischen Leitende-Körperschaft-Karriere ab. 1939 ließ er sich taufen, ein Jahr später begann er im Anschluss an seine Ausbildung mit dem Vollzeitpionierdienst. Raymond Franz diente als Sonderpionier, Missionar, Kreis-, Zonen- und Zweigaufseher, bevor er in den Sechzigern in die Weltzentrale der Zeugen Jehovas nach Brooklyn, New York zog. 1971 dann war sein Aufstieg perfekt: Er wurde Mitglied der Leitenden Körperschaft und diente ihr neun Jahre lang. In diesem Zeitraum zeichnete er für zahlreiche Artikel und Bücher der Wachtturm-Gesellschaft verantwortlich. Dann wurde er (aus dem Leitungsgremium – H. H.) rausgeworfen und am 30. Dezember 1981 schließlich in Abwesenheit von der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgeschlossen.
Sein Vergehen: Gemeinsam mit anderen Schreibern der Wachtturm-Gesellschaft hatte er gravierende Unstimmigkeiten im Bibelverständnis der Leitenden Körperschaft entdeckt, die das Fundament der Wachtturm-Lehre in Frage stellten.“
Schenke man den Berichten von Beteiligten und Beobachtern über die Geschehnisse in der Raymond-Franz-Affäre Glauben, schreibt Anouk, bewies die Leitende Körperschaft durch ihr Intrigenspinnen, „dass sie zu den ‚schlimmsten Feinden der Religionsfreiheit und der Wahrheit‘ gehörte. Denn die folgenden Monate erschütterten die Wachtturm-Gesellschaft in ihren Grundfesten. Sie gingen als Die Große Franz-Krise in die Geschichte der Zeugen Jehovas ein.“ Langjährige und treue Zeugen Jehovas wurden unter Generalverdacht gestellt. Es herrschte eine Atmosphäre der Bespitzelung, Telefone wurden abgehört, Freunde entzweit. Die Dienstabteilung gründete eine Sondereinheit, die den Verdachtsmomenten nachging und willkürlich Mitarbeiter der Weltzentrale der WTG überprüfte und verhörte. Es wurde bedingungslose Treue zur Wachtturm-Gesellschaft eingefordert, und alles, was nicht auf Wachtturm-Linie war, geriet ins Fadenkreuz der internen Ermittler. Der Autor spricht von einer „Hexenjagd auf Raymond Franz“ und entspricht damit dem Vokabular einer Gemeinschaft, die ihm zufolge allen Ernstes noch an Satan und Dämonen glaubt.
Misha Anouk: Goodbye Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek 2014, 543 Seiten, 9,99 Euro.
Schlagwörter: Heerke Hummel, Misha Anouk, Raymond Franz, Wachturm-Gesellschaft, Zeugen Jehovas