von Hans Erxleben
Lutz Seilers Roman „Kruso“ hatte es auf Anhieb auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste geschafft. Dieses Buch ist tatsächlich ein literarisches Ereignis. Seiler hat mit Kruso zweifellos eine grandiose Wende-Romanfigur geschaffen, besser gesagt, einen sprachgewaltigen und assoziationsreichen Vorwende-Roman geschrieben; denn die Robinsonade „Kruso“ spielt im Sommer/Herbst 1989. Und zwar auf Hiddensee, meiner Lieblingsinsel an der Ostsee. Keine leichte Kost, aber brillant und fesselnd geschrieben.
Der Arbeitsplatz des 24-jährigen Helden Ed Bendler, einem gescheiterten Germanistik-Studenten, ist die Küche des Betriebsferienheims „Zum Klausner“, oben auf dem 70 Meter hohen Steilufer des Dornbuschs, gleich neben dem Leuchtturm, konkret der Abwasch des idyllisch gelegenen Gasthauses, das in den letzten Jahren zu meinem bevorzugten Ziel auf Hiddensee geworden ist. Deswegen kann ich den klug beobachteten Schilderungen über die dortigen Gegebenheiten auch gut folgen. Das Äußere des Klausners hat sich nur unwesentlich verändert, das Innere schon und das Umfeld sowieso, kaum aber die Natur. Hiddensee ist immer noch ein Sehnsuchtsort, aber gottlob kein hermetisch abgeriegeltes Grenzgebiet mehr. Die Zeiten, wo nachts jeder Strandkorb von den Grenzern abgesucht wurde, sind lange vorbei. Was sich ansonsten damals dort auf der Insel so im Verborgenen oder Halböffentlichen abspielte erfuhr ich nun zum ersten Mal ziemlich eindringlich, manchmal auf beklemmende Weise.
Im Mittelpunkt steht also Kruso, der mysteriöse russischstämmige Alexander Krusowitsch, ein Sonderling, wie auch der Erzähler Ed, die zu Blutsbrüdern werden. Kruso, der Insel-Guru, organisiert Wege in die Freiheit für die vielen „Schiffbrüchigen“, Fluchtwillige vom Festland. Beide lieben und zitieren während der Küchenarbeit Rimbaud, Artaud und Trakl. Da merkt man Seilers Herkunft als Lyriker. Es geht um Freiheit und Sinnsuche, um den Zerfall der DDR. Wobei es bei der Freiheitssuche weniger um Flucht, vielmehr um innere Freiheit geht.
Der in Gera geborene Seiler weiß sehr genau, worüber er detailreich schreibt, hat er doch den letzten Sommer der DDR als Abwäscher in der Gaststätte „Zum Klausner“ verbracht, als ebensolcher „Esskaa“, wie sie im Roman beschrieben werden: Saisonkräfte, auf der Flucht vor dem Alltag der DDR. Seiler beschreibt detailliert die „Ritter der Tafelrunde“ am Personaltisch des „Klausner“, einer verschworenen Gemeinschaft, die aber in den Wirren der Wendezeit zerfällt und in alle Winde zerstreut wird. Manches an dieser Gemeinschaft der Sonderlinge und Aussteiger auf der Freiheits-Enklave Hiddensee mutet utopisch an, aber mehr und mehr zerfällt diese brüchige Nische der Träumer und Traumtänzer dann auch.
Wie man von Lutz Seiler bei Lesungen hören konnte, hat Kruso ein relativ konkretes Vorbild – den Gründer und Sänger der DDR-Punkband Feeling B, Aljoscha Rompe, (verstorben im Jahr 2000), dessen halblegale spontane Strandkonzerte auf Hiddensee legendär waren. Und Krusos Stiefvater Rommstädt hat auch ein Vorbild – den Wissenschaftsorganisator und Physiker Robert Rompe, der viele Jahre auf Hiddensee lebte und dort auch begraben ist. Etliche Kellner des „Klausner“ von 1989 haben in den Nachwendejahren in Berlin eigene Kneipen betrieben, also eine sehr reale Personage.
Der Epilog des Buches wechselt abrupt die Erzählperspektive, beruht auf aktuellen Recherchen des Autors in Dänemark. Eine nüchterne Spurensuche im Reportagestil nach den vielen unbekannten Flüchtlingstoten, die es nicht von Hiddensee bis zur Insel Mon schafften. Seiler war der erste, der sich für den Verbleib der angeschwemmten Toten interessierte. Er schafft hier auch stilistisch einen Kontrast, ein Korrektiv zur vorher geschilderten metaphorischen sehnsuchtsverklärten Hiddensee-Welt. Der Raum des Utopischen schrumpft zum Realen, abseits aller Poesie. Eine historisch wichtige Ergänzung und eine andere Form der inneren Einkehr, wenn auch hier noch einiges offen bleibt.
Dass Lutz Seiler für seinen Debütroman Anfang Oktober den wichtigen Deutschen Buchpreis 2014 bekommen hat, halte ich für verdient, zuvor war er dafür schon mit dem Uwe-Johnson-Literaturpreis bedacht worden, und 2015 wird er für den Roman auch noch den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis erhalten.
Vom ostdeutschen Baufacharbeiter zum gesamtdeutschen Buchpreisträger, 25 Jahre nach dem Mauerfall. In der Geschichte sind 25 Jahre nichts, kaum mehr als Wimpernschlag. So gebiert Geschichte Geschichten – wie eben die von Kruso und Ed.
Lesens-, empfehlens- und nachdenkenswert.
Lutz Seiler: Kruso. Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 484 Seiten, 22,95 Euro.
Der Autor ist Publizist und lebt in Berlin.
Schlagwörter: Hans Erxleben, Kruso, Lutz Seiler