von Edgar Benkwitz
Vor 125 Jahren, am 14. November 1889 wurde der Begründer des neuen Indien, Jawaharlal Nehru, geboren. Anlass genug, um schon seit geraumer Zeit Vorbereitungen für eine Würdigung des großen Staatsmannes zu treffen. Die sollte in den Händen eines Gremiums liegen, dem der Premierminister des Landes vorstand und dessen prominentestes Mitglied Sonja Gandhi, Präsidentin der Kongresspartei und Angehörige der Nehru-Gandhi-Familie, war. Doch inzwischen haben sich die politischen Verhältnisse in Indien entscheidend geändert. Die desaströse Wahlniederlage im Frühjahr degradierte die Kongresspartei zu einer politischen Randfigur, ihre Regierung verschwand ebenso wie ihre geplanten Maßnahmen. Die hindunationalistische Indische Volkspartei(BJP), jetzt an der Macht, hat andere Vorstellungen von der Traditionspflege und ist nicht bereit, die politische Konkurrenz durch Gedenkveranstaltungen aufzuwerten.
So sprach auch niemand mehr vom Nehru-Komitee, zumal Sonja Gandhi nach dem Wahlsieg der BJP ihren Rücktritt aus dem Gremium bekannt gab. Zur Überraschung aller griff jedoch der neue Premierminister Narendra Modi Mitte Oktober das Thema wieder auf. Er formte das noch auf dem Papier bestehende Komitee um, indem er eine Reihe neuer Mitglieder berief und sich selbst zum Vorsitzenden ernannte. Traditionell wird der Geburtstag Nehrus als „Tag des Kindes“ begangen. Das mag Modi bewogen haben, die fünf Tage zwischen diesem Geburtstag und dem seiner Tochter Indira Gandhi (am 19.11.) zu Aktionstagen für Sauberkeit, Hygiene und Gesundheit an allen indischen Schulen zu bestimmen. Weisungen ergingen bis ins kleinste Dorf, die Schüler intensiv mit der Bedeutung von Sauberkeit und gesundheitlicher Vorsorge durch Vorträge und Übungen vertraut zu machen. Wird man angesichts solch notwendiger Dinge nicht an Brechts großartige Ballade von den Teppichwebern erinnert? Statt Denkmal eine nützliche Aktion! Doch anders als bei Brecht kommt hier die Initiative von oben, zudem hat sie einen faden Beigeschmack.
Die plötzliche Hinwendung Modis zu Nehru, den er bei seinen Wahlauftritten noch vor einem halben Jahr heftig kritisierte, hat nichts mit einem Sinneswandel zu tun. Wo immer möglich, versucht er, diesen zu diffamieren oder zurückzusetzen. In der Rede zu Indiens Nationalfeiertag im August würdigte Modi die Verdienste einer Reihe indischer Politiker zur Unabhängigkeit – Nehrus Name fiel dabei nicht. Stattdessen gab er die Auflösung der Plankommission bekannt, die, einst von Nehru geschaffen, in den ersten Jahrzehnten des jungen Staates eine bedeutende Rolle spielte. Bei der Behandlung der historischen Persönlichkeiten der Partei wird allerdings differenziert vorgegangen. Mahatma Gandhi, jahrzehntelang ihr Mitglied, für kurze Zeit sogar deren Präsident, wird von den Hindunationalisten voll vereinnahmt. Abgesehen davon, dass an ihm in Indien sowieso kein Weg vorbeiführt, war er anders als Nehru ein zutiefst Hindugläubiger. Dieser stellte sich zwar Hindubräuchen, machte aber aus seiner atheistischen Grundanschaung kein Hehl. Das gleiche trifft auch auf die anderen Größen der Nehru-Gandhi- Familie wie Indira Gandhi, Rajiv Gandhi und heute auch Rahul Gandhi zu. Und Sonja Gandhi, italienischstämmig, ist gar Katholikin. Besonders sie war deshalb immer wieder Angriffen hinduchauvinistischer Kräfte ausgesetzt. Die heutige Außenministerin Sushma Swaraj drohte nach dem Wahlsieg der Kongresspartei 2004 sogar, sich die Haare abschneiden zu lassen, falls Sonja Gandhi Premierminister des Landes wird. Die bereits damals einflussreiche Swaraj bediente damit zutiefst die Gefühle aller Hindus, denn der geschorene Kopf einer Frau gilt als Zeichen größter Trauer.
Hingegen erfährt ein enger Kampfgefährte von Gandhi und Nehru, Sardar Patel, durch die neuen Machthaber ungewohnte Aufmerksamkeit. Patel, der „Bismarck Indiens“, hatte als erster Innenminister großen Anteil, den Flickenteppich Indien zu einem funktionierenden Staat zu einen. Bisher galt Nehru als der Architekt des neuen Indien, das soll jetzt anders gesehen werden: dieses Verdienst würde Sardar Patel gehören, so die Hinduideologen. Beinahe unnötig zu erwähnen, dass Patel ein überzeugter Hindugläubiger war und er sich mit Nehru in politischen Fragen des öfteren überwarf. Jetzt wird für ihn eine gigantische Statue errichtet, mit 182 Meter Höhe überragt sie die Freiheitsstatue in New York um das Doppelte. Zudem legte die Regierung fest, dass fortan der 31. Oktober, der Geburtstag Patels, als „Tag der nationalen Einheit“ begangen wird. Bisher gehörte dieses Datum dem Gedenken an Indira Gandhi, die an diesem Tag 1984 ermordet wurde. Das Ereignis jährte sich in diesem Jahr zum dreißigsten Mal. An der traditionellen Zusammenkunft am Gedenkort für Indira Gandhi nahm auch der Präsident Indiens teil, sie wurde jedoch von der BJP-Regierung, einschließlich des Premierministers, brüskiert. Noch vor gut zehn Jahren, als die BJP schon einmal die Regierung stellte, nahm der damalige Premier Vajpayee regelmäßig an der Ehrung teil.
Hinter all den Attacken auf Politiker, die nicht in das Schema des Hindunationalismus passen, verbirgt sich aber mehr als nur politischer Tageskampf. Es geht um die Deutungshoheit der neueren indischen Geschichte. Nicht liberalen und säkularen Persönlichkeiten, wie sie die Nehru-Gandhi-Familie verkörpert, sondern im Hinduismus verwurzelten Politikern werden jetzt die größten Verdienste um das Land zugerechnet. Und der oberste Geschichtsumdeuter des Landes macht auch vor, wie das geht. „Mahatma Gandhi ist ohne Sardar Patel unvollständig“, verkündete Modi auf der Gedenkfeier für Patel. Kein Wort über Nehru. Und die Regierung legte fest, dass in Zukunft nur noch Gandhi und Patel staatlicherseits geehrt werden. Alles andere sei Privatsache. Die indische wie auch die Weltöffentlichkeit hatten bisher ein festgefügtes Bild von dem Zweigestirn Mahatma Gandhi/Jawaharlal Nehru, Kampfgefährten gegen Fremdherrschaft und für Unabhängigkeit. Dieses Bild soll jetzt durch das Duo Gandhi/Patel ersetzt werden.
Wie reagieren darauf die Kräfte, die bisher vorgaben, die Gralshüter von Demokratie, Liberalismus und Säkularismus zu sein? Die Kongresspartei hat mit dem Wahldebakel die Quittung auch dafür erhalten, dass diese Prinzipien durch Miss- und Vetternwirtschaft und Korruption enorm an Wert und Glaubwürdigkeit verloren haben. Gegenwärtig ist sie zu schwach, um ernsthafte Ansprüche an die Gestaltung der indischen Politik zu stellen. Indiens Hoffnungsträger ist jetzt mit Narendra Modi ein Hindunationalist, der sich großer Popularität erfreut. Er vermittelt den Eindruck von Weltoffenheit sowie Verständnis für alle Probleme des Landes. Doch hinter ihm stehen Organisationen, die strikt hindunationalistisch ausgerichtet sind. Wie die Geschichte vieler Länder lehrt, verdient eine von oben veranlasste Umschreibung der Geschichte Misstrauen.
Die Kongresspartei erntet jetzt die Früchte einer verfehlten Geschichtspolitik. Nehrus Leben wurde heroisiert, ihm einseitig Erfolge zugesprochen, Misserfolge und Fehlschläge übergangen. Seine Mitstreiter, ebenfalls überragende Persönlichkeiten, wurden in die zweite oder dritte Reihe gerückt.
Mittlerweile hat die Partei ihr eigenes Komitee zur Ehrung von J. Nehru gegründet. Die vielfältigen Veranstaltungen werden aber nur dann einen Eindruck hinterlassen, wenn statt Beweihräucherung eine realistische und in einigen Fragen auch kritische Herangehensweise an das Lebenswerk des indischen Staatsmanns Nehru sichtbar wird. Eine solche Betrachtungsweise könnte zudem der Kongresspartei bei der zurzeit notwendigen Selbstfindung helfen. Es ist aber zu befürchten, dass die historische Gestalt Nehrus nur für den Versuch herhalten muss, im politischen Tageskampf Punkte zu sammeln.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Indien, Jawaharlal Nehru, Mahatma Gandhi, Narendra Modi