17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Indien ideologisch

von Edgar Benkwitz

Indien zu verstehen ist nicht immer einfach. Das hängt mit der Vielfalt und Verschiedenartigkeit dieses großen Landes zusammen, auch mit den hier herrschenden Ideologien und Ideen. Ihnen widmet sich der britische Historiker Perry Anderson in seinem Werk „Die indische Ideologie“. Seine Untersuchung ist nicht abstrakt angelegt, sie schließt die Bedingungen mit ein, die diese Ideen hervorgebracht haben und – wie er sagt – sich nun in ihnen verzerrt spiegeln.
Es ist vor allem die „Idee Indien“ mit ihren staatstragenden Begriffen Demokratie, Säkularismus und Einheit, die Anderson interessiert. Er spürt ihnen in wichtigen Abschnitten der Geschichte nach: so das Wirken Mahatma Gandhis in den letzten Jahren von Britisch-Indien, die Machtübertragung nach 1945 von der britischen Kolonialherrschaft auf die Kongresspartei sowie die Herausbildung der Strukturen des neuen Staates unter Jawaharlal Nehru.
Doch die Einpflanzung ideologischer Prinzipien in die indische Gesellschaft, vor allem in die britischhörige einheimische Elite, begann schon früh in der Kolonialzeit. Die „Idee Indien“, die angeblich all das umfasst, was Indien seinen einmaligen und unverwechselbaren Charakter verleiht, diente der Kolonialherrschaft schon vor über 150 Jahren zur Sicherung ihrer Macht über den unterworfenen und zersplitterten Subkontinent. Die „offizielle und intellektuelle Metaphorik“ – so Anderson – kreist bis heute um die Begriffspaare Altertum/Kontinuität, Vielfalt/Einheit, Massenhaftigkeit/Demokratie sowie Multireligiosität/Säkularismus. Sie werden beweihräuchert, verklärt, manchmal auch mit Tabus umgeben. Doch sie spiegeln beileibe nicht die wahre Realität wider. Sie beruhen teilweise auf Mythen und bewussten Täuschungen, verdunkeln die Wirklichkeit, verschweigen Wahrheiten, rechtfertigen Unrecht und Gewalt.
Eine Modifizierung der Begriffe Demokratie und Säkularismus stellt Perry Anderson in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts fest. Mahatma Gandhi war der unangefochtene spirituelle Führer im nationalen Befreiungskampf, wesentliche politische Entscheidungen legten jedoch von seiner Wankelmütigkeit Zeugnis ab. Für ihn galt die Religion mehr als die Politik, das machte er immer wieder deutlich. Fatal sollte sich allerdings die durch ihn betriebene Öffnung der bisher weitgehend säkularen Kongresspartei für den Hinduismus erweisen. Das geschah im Interesse der Schaffung einer Massenbasis für die Partei, die auf die hinduistische Bevölkerungsmehrheit zielte, aber so die muslimische Bevölkerung und die Unberührbaren ausgrenzen musste. Diese fühlten sich nicht mehr durch die Kongresspartei im Streben nach Unabhängigkeit und Gleichberechtigung repräsentiert. Es gab warnende Stimmen aus der Führung der Partei, wie von ihrem zeitweiligen Präsidenten Subhas Chandra Bose(später Führer der von den Japanern aufgestellten „Indischen Nationalarmee“ im Kampf gegen die Briten) oder B.R.Ambedkar, Führer der Unberührbaren. Beide wurden gemaßregelt oder politisch kaltgestellt, wobei J. Nehru eine aktive Rolle spielte. Ihm kam es darauf an, mit Zustimmung der Engländer ein Indien zu schaffen, in dem die Hindubevölkerung (und damit der Hinduismus) dominierte. Nur dieses Indien sollte Nachfolgestaat von Britisch-Indien werden, nicht aber ein abgespaltener Muslimstaat.
Perry Anderson sieht in der Verquickung der indischen nationalen Bewegung und damit des Nationalismus mit dem Hinduismus(wobei dieser nicht nur die Religion, sondern die mit ihr verbundene gesamte hinduistische Lebensweise umfasst) eine der Ursachen für katastrophale Entwicklungen in der Folgezeit. Die Teilung des Subkontinents entlang religiöser Linien führte zu Massakern und einer riesigen Flüchtlingslawine mit etwa einer Million Toten. Die Abwanderung nahezu aller bedeutenden muslimischen Persönlichkeiten – von Wirtschaftsführern, Politikern bis zu Wissenschaftlern und Künstlern – nach Pakistan sollte ein Aderlass für den in Indien verbleibenden Volksteil sein, von dem dieser sich bis heute nicht erholt hat. Auch der Kaschmirkonflikt wuchs auf diesem Boden, seit über 60 Jahren ist eine muslimisch geprägte Region militärisch besetzt, der demokratische Grundgedanke wird permanent verletzt. Allerdings vermisst man spätestens hier einen Hinweis des Autors, dass die Teilung mit ihren fatalen Folgen nicht nur Kongresspolitikern anzurechnen ist. Auch die indischen Muslimführer verfolgten politische Ziele und verfügten über eine Ideologie (die spätere Staatsideologie Pakistans). Und über die Haltung der Kolonialmacht, die nach ihrer langen Herrschaft über den Subkontinent jetzt jegliche Verantwortung vermissen ließ, schweigt sich der Autor weitgehend aus.
Auch ein Blick in die 50er und 60er Jahre verrät, dass beim Aufbau des neuen indischen Staates die demokratischen Prinzipien massiv verletzt und unterhöhlt wurden. P.Anderson bezieht sich auf die Schaffung und häufige Anwendung von Ausnahmegesetzen, die bis heute von der Zentralgewalt oft mit militärischer Gewalt gegen missliebige Entwicklungen angewandt werden. Er untersucht auch das von den Briten übernommene Mehrheitswahlrecht, das den Minderheiten kaum Chancen für politische Mitbestimmung lässt. Es ist mitverantwortlich, dass die über 140 Millionen Muslime der Indischen Union in allen staatlichen Organen total unterrepräsentiert sind. Offiziellen Untersuchungen zufolge steht die muslimische Bevölkerung in allen sozialen Belangen mit am schlechtesten da. Abgesehen von einer dünnen Eliteschicht sind die Muslime des Landes Bürger zweiter Klasse, so Perry Anderson. Und er teilt weiter aus: Das Kastensystem, das die Hindugesellschaft in unzählige kleine, von strengen Regeln getrennte soziale Einheiten fragmentiert und vor allem in den ländlichen Gebieten noch sehr lebendig ist, sei ein Hohn auf Freiheit und Gleichheit. Auch die „dynastische Erbfolge“, von J.Nehru an der Spitze des Staates in Szene gesetzt und bis heute gepflegt, laufe jeglicher Demokratie total zuwider.
Perry Anderson packt mit seiner ätzenden Kritik an politischen Zuständen und Verhaltensweisen heiße Eisen an, die ziemlich unsanft die vielgepriesenen Grundprinzipien Demokratie, Säkularismus und Einheit berühren. Jedoch schüttet er das Kind nicht mit dem Bade aus. Er erkennt deren grundlegende Bedeutung für das heutige Indien durchaus an. Allerdings sei im Interesse der Zukunft des Landes eine schonungslose Debatte darüber notwendig, zumal Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklafften. Zu ihren aktuellen Themen zählt Anderson: Wie stark ist die Demokratie gesellschaftlich verankert; wie verhält sich das Kastenwesen zu ihr; wo ist der Ort der Religion in dieser Demokratie, die formal säkular ist, aber ist sie es auch substantiell; welcher Preis wird für die Einheit der Nation entrichtet?
Doch ist die indische Gesellschaft zu einer solchen Debatte bereit? Anderson bezweifelt das. Er beruft sich auf G.Balachandran, einen der wenigen Intellektuellen, der sich dieser Problematik stellt. Dieser schreibt, dass die hinduistische Durchtränkung des indischen Nationalismus bis heute fortwirkt und nahezu alle politischen Kräfte des Landes berührt und damit ideologische Grenzlinien verwischt. So hat sich die hindunationalistische und zur Zeit regierende Indische Volkspartei (BJP) „die Sprache des Säkularismus angewöhnt“, die Kongresspartei betreibt dagegen „eine bemühte Aneignung des sogenannten weichen hindutva“ (Hindutum – E.B.) und die kommunistischen Parteien offerieren „Versionen eines reineren und wahreren Hinduismus …“.
Perry Andersons Buch ist nur knapp 200 Seiten stark. Der Titel erscheint etwas hochgestapelt, zumal der Autor sein Werk als einen politischen Essay bezeichnet, der keine erschöpfende Totalität beansprucht. Jedoch wirft er grundlegende Probleme auf, die von der indischen Gesellschaft weitgehend zugedeckt, für das Verständnis des heutigen Indien aber sehr wichtig sind.

Perry Anderson: Die indische Ideologie, Berenberg Verlag, Berlin 2014, 208 Seiten, 22,00 Euro.