17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Imperiale Interessenpolitik

von Peter Petras

In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg wird besonders kontrovers der Warschauer Aufstand diskutiert, den vom 1. August 1944 an über 63 Tage Einheiten der Polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer führten. Die Deutschen ermordeten Zehntausende Zivilisten und legten die Stadt in Schutt und Asche. Die Rote Armee stand am anderen Ufer der Weichsel und griff nicht ein. Es heißt, sie sei absichtlich nicht weiter vorgerückt, weil die Niederlage der Einheiten der Londoner Exilregierung in Warschau den Stalinschen Plänen für das Nachkriegspolen zupass kam.
Dieser Tage gingen die Kämpfe um die kurdische Stadt Kobane im Norden Syriens in eine entscheidende Phase. Es gibt keine direkten Analogien in der Geschichte, wohl aber beim Thema imperiale Machtpolitik. US-Außenminister Kerry sagte am 8. Oktober, nach einem Treffen mit seinem britischen Amtskollegen: „So schrecklich es ist, in Echtzeit zu verfolgen, was in Kobane passiert, Sie müssen einen Schritt zurücktreten und die strategischen Ziele verstehen… Wir versuchen, den ‚Islamischen Staat‘ insgesamt zu schwächen, nicht nur in Kobane, sondern überall in Syrien und dem Irak.“ Die Türkei, die Panzer direkt an der syrischen Grenze gegenüber Kobane hat auffahren lassen, ohne dass die mehr tun, als sich zu zeigen, meint, ein Einsatz gegen den IS würde Dschihadisten in der Türkei zu Aktionen gegen den türkischen Staat veranlassen. Außerdem würde der Einsatz den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad stärken sowie die Kurden in Nordsyrien.
Damit kommen wir zu dem eigentlichen Problem. Zähneknirschend hat die Türkei bereits zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Kurden im Nordirak eine faktische Autonomie erlangt haben – das sind die sogenannten Peschmerga, die von Deutschland jetzt mit Waffen gegen den IS ausgerüstet werden. Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges hatten sich Assads Truppen 2012 aus dem Norden Syriens zurückgezogen. Die dortigen, syrischen Kurden haben in mehreren Distrikten daraufhin faktisch die Kontrolle übernommen und eigene, demokratisch legitimierte Machtorgane geschaffen und Selbstverteidigungskräfte gebildet. Das sind diejenigen, die jetzt in Kobane, ihrer letzten Hochburg, gegen die Terrorbanden des IS kämpfen.
Die türkische Regierung hatte derweil nicht nur die IS-Banden aufgepäppelt und ihnen Hinterland geboten, Unterschlupf gewährt und medizinische Betreuung bereitgestellt – alles sollte möglich sein, wenn es nur dem Sturz Assads dient. Sie behauptet zugleich, die syrischen Kurden würden mit der kurdischen PKK in der Türkei unter einer Decke stecken. Deshalb würde eine Unterstützung der syrischen Kurden die PKK stärken. Lieber lässt man kurdische Demonstranten, die in der Türkei für eine Unterstützung der Kämpfer in Kobane eintreten, zusammenschießen, und lässt kurdische Freiwillige, gar Waffen nicht über die Grenze. Dabei wäre das die einfachste Form der Hilfe für die Kurden in Kobane: kurdische Freiwillige und deren Waffen über die Grenze nach Syrien zu lassen. Da müssten die türkischen Panzer an der syrischen Grenze noch nicht einmal den Motor anlassen. So schaut der Westen also zu, wie in Kobane die IS-Mörder ihr Handwerk ausüben. Der türkische Satz, man wolle nicht allein nach Syrien gehen, meint eigentlich, die NATO soll das türkische Vorgehen unterstützen. Das wäre ohnehin völkerrechtlich fragwürdig: Es gibt keinen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates dafür, und den gibt es nicht ohne Russland und China. Und es gibt noch immer eine Regierung in Damaskus, an deren Spitze Assad steht. Die müsste man fragen, so wie die deutsche Regierung, mindestens pro forma, in Bagdad gefragt hat, ob sie den Peschmerga Waffen liefern darf. Auch die USA halten offenbar einen Draht nach Damaskus aufrecht im Zusammenhang mit ihren Luftschlägen gegen den IS, auch wenn die US-Regierung betont, Assad sei nicht legitimiert und sie hätten ihn nicht gefragt, sondern nur „informiert“. Immerhin.
Der türkische Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, dagegen meint, es solle sowohl der IS bekämpft als auch Assad gestürzt werden. Das aber wird nicht gehen. Es muss der Hauptfeind identifiziert werden, gegen den es vorzugehen gilt. Das ist der „Islamische Staat“ des selbsternannten Kalifen. Dem verweigert sich jedoch die türkische Regierung. Sie will unbedingt eine kurdische Autonomie in Nordsyrien verhindern. Lieber lässt sie die kurdischen Kämpfer dort sterben. Und die „Zurückhaltung“ der USA und des Westens, darunter der deutschen Regierung, hat wiederum etwas mit Rücksichtnahme auf den – tatsächlichen oder vorgeblichen – Verbündeten Türkei zu tun. Das ist Schuld durch Unterlassung. Womit wir wieder bei der Frage nach historischen Analogien wären.