von Lutz Unterseher
Vergangenen Juli besuchte ich meine neunzehnjährige Tochter Lina in Kolumbien. In einem Schulzentrum, das in einer abgelegenen Gegend der Anden liegt, diente sie als Assistenzlehrerin für Englisch. Sie berichtete, dass jeder Schultag dort mit dem Absingen dreier Hymnen beginnt: einer für die Schule, einer für die Region und der dritten – wichtigsten – für die Nation. Ich schloss daraus, dass man in Kolumbien viel in den Gemeinschaftsgeist investiert. Kaum unsinnig in einem Land, das nicht nur eine Vielzahl guter, zumeist festkochender Kartoffelsorten aufweist, sondern auch von kultureller und landschaftlicher Diversität geprägt ist. Von der Tatsache eines langandauernden Bürgerkrieges ganz zu schweigen.
Mein Aufenthalt in Kolumbien fiel in die Endphase der jüngsten Fußballweltmeisterschaft. Als das kolumbianische Team nach, wie ich hörte, heroischem Einsatz gegen das brasilianische verlor, wurde die Schuld einhellig bei unfairen Schiedsrichterentscheidungen gesehen. Gleichwohl erschienen nun auch „die Brasilianer“ deutlich weniger sympathisch als zuvor. In der Regierung machte man sich Sorgen. Nicht gut für das Image, wenn unter den Augen der Weltöffentlichkeit einem brasilianischen Bürger in Kolumbien ein Leid geschähe. Auch nicht gut, wenn sich kolumbianische Frustration in Kneipenschlägereien entlüde.
Die Sorgen waren durchaus begründet, da es in Kolumbien schlimme Tradition ist, dass im Gefolge von Fußballereignissen Menschen ihr Leben verlieren. So wurde denn den Bürgern gesagt, denkt positiv, seid nicht traurig, sondern stolz auf die in Brasilien gezeigte Leistung! Es wurde zwar belächelt, kam aber doch wohl gut an: Alle Busse hatten auf ihrem Front-Display abwechselnd mit dem Fahrtziel einen Kurztext zu zeigen: „Gracias Colombia!“
Dann nahm die deutsche Mannschaft im Namen Kolumbiens, so schien es vielen, bittere Rache und demütigte ihre brasilianischen Gegner. Wenn Lina und ich trotz ihres blütenreinen Spanisch als Deutsche enttarnt wurden, konnte es gut geschehen, dass wildfremde Menschen uns felicitaciónes aussprachen. Einmal kam es gar vor, dass ich auf fremde Kosten grauenvoll süßlichen Anisschnaps trinken musste.
Die Welt Kolumbiens war also fast wieder in Ordnung. Aber eben nur fast. Als am Ende die deutsche Mannschaft den ersehnten Titel errungen hatte, wurde in Kolumbien nämlich schnell errechnet, dass ein heimischer Fußballstar, ein Herr Rodriguez, der Torschützenkönig der Meisterschaftsspiele war. Noch vor einem gewissen Herrn Müller aus Bayern.
Rodriguez, ein sympathischer Junge, wurde zum „Goleador“ ausgerufen („gol“ vom Englischen „goal“), und das Fernsehen entwickelte um ihn herum einen veritablen Kult, zeigte ihn immer wieder und in unterschiedlichsten Posen. (Mir gefiel er besonders gut, wenn er Salsa tanzte.) Der Goleador beherrschte die Medien, und der deutsche Endsieg verkam zur Fußnote. Hatte nicht doch eigentlich Kolumbien die Weltmeisterschaft gewonnen?
Schließlich gab es einen vielfach kolportierten Skandal, der den Goleador um ein Übriges aufwertete. Eine Fernsehreporterin aus Kolumbien hatte den offenkundig stockbesoffenen Herrn Müller gefragt, ob es ihm etwas ausmache, nicht der Torschützenkönig zu sein. Der wurde grob und bemerkte in trunkverzerrtem Oberbayrisch sinngemäß, dass ihm dies scheißegal sei und nur der Titel zähle.
Der eigentliche Skandal brach freilich erst los, nachdem Müllers Antwort zunächst ins Deutsche und dann ins Spanische übersetzt worden, der Angriff auf die kolumbianische Nation evident war. Nun konnte man den Deutschen medienamtlich ihren Titel absprechen. Bereits vorher hatte allerdings ein Herr Schweinsteiger sich bemüht, den Schaden zu begrenzen. Nach einer Interpretation der Äußerung seines Teamkameraden gefragt, meinte er nämlich, dass Herr Müller zu seiner Interviewerin gesagt hätte, sie sei eine sehr schöne Dame.
Ich beneide Herrn Schweinsteiger, weil er so aussieht, wie er heißt. Mir ist entsprechendes leider nicht vergönnt.
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