von Hans-Jürgen Schwebke
Immer wieder am Silvesterabend höre ich gleich vielen Millionen Menschen auf der ganzen Welt die 9. Sinfonie Beethovens. So war es auch 2013. Und kaum einer fragt noch nach, warum und seit wann dieses einzigartige Werk zum Jahresende erklingt. Nicht viele Konzertbesucher wissen, dass die außergewöhnliche Situation am Ende des Jahres 1918 zur Wahl dieses Tages führte.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges herrschte trotz aller materiellen und seelischen Not eine Aufbruchsstimmung in der Arbeiterbewegung. Die Leipziger Volkszeitung veröffentlichte im Feuilleton davon beflügelte Artikel und Verse. Der Kunst wurde große Bedeutung beigemessen. Rudolf Franz, Feuilletonredakteur und Autor der Leipziger Volkszeitung, hatte den Gedanken am Ende des Ersten Weltkrieges für die Arbeiter eine würdige (nicht im Alkohol endende) Silvesterfeier mit Beethovens „Neunter“ zu gestalten. Anlass war die „Friedens- und Freiheitsfeier“ des 1907 gegründeten Arbeiter-Bildungs-Instituts(ABI), einer kulturpolitischen Organisation zur Heranführung der Arbeiter an Film, Theater, Literatur und Musik. So wurde in der Silvesternacht 1918 um 23.00 Uhr in der damaligen Alberthalle des Kristallpalastes unweit des Hauptbahnhofes in Leipzig die „Friedens- und Freiheitsfeier“ mit der Aufführung des Werkes durch das Städtische Theater- und Gewandhaus-Orchester sowie Mitglieder des Bach- und des Riedel-Vereins und des Gewandhaus-Chores veranstaltet. Pünktlich zum Jahreswechsel konnte „Seid umschlungen Millionen“, der Schlusschor, ertönen.
Tief bewegt vernahmen damals in dem überfüllten Saal über dreitausend Menschen einer kriegsmüden und in sich zerbrochenen Generation der Enttäuschten und Besiegten Beethovens Botschaft der Freiheit, des Friedens und der Verbrüderung der Menschen; unter ihnen auch vom politischen Willen Geprägte, Kriege in Zukunft verhindern und sie durch Gespräche und gegenseitigen Respekt unmöglich machen zu wollen. Kein Geringerer als der Dirigent Arthur Nikisch übernahm die Leitung der 100 Orchestermusiker und 300 Choristen. Mit der triumphalen Aufführung der „Ode an die Freude“ verbanden sie, die Initiatoren, Mitwirkenden und Gäste, die sehnsüchtige Friedensvision „Si vis pacem para pacem“ („Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor“), die sich deutlich der militanten Räson „Si vis pacem para bellum“ („Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg“) entgegenstellt.
Der historisch-symbolische Rang jener musikalischen Kundgebung spiegelte sich in den Kritiken wider. Nie sei Beethovens opus Nr. 125 „so zeitgemäß gewesen wie heute“, hieß es etwa im Leipziger Tageblatt, „wenn wir auch noch inmitten der Not, im wirren Chaos sind. Diejenigen, die in der Novemberrevolution die Erlösung erblicken, werden in ihrer Seele beim Lied an die Freude die Resonanz empfinden, die anderen werden ihre Sehnsucht nach der Lösung aller Wirrnisse, nach dem Frieden im Land in das Werk strömen lassen – ergreifen aber muss es heute alle, da wir zu keiner Zeit leidenschaftlicher um unser Schicksal rangen als jetzt.“ Der Schillersche Text „Ode an die Freude“ schien die Projektion der begeisternden emotionalen Wirkung der Musik auf einen „ächten Socialismus“ vorzunehmen.
Eine Tradition war ins Leben gerufen worden, die von Leipzig ausgehend in der Welt Fuß fasste. Sie zog in die politische Kultur von Gedenkfeiern ein, die bis auf den heutigen Tag fortwährt. Als Nikisch starb, führten Hermann Scherchen, Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter die erfolgreichen Konzerte des Arbeitervereins fort. Sie alle ließen sich von der Überzeugung leiten, dass Beethovens Freudenbotschaft immer wieder aufs Neue den Menschen die Idee des weltumspannenden Friedens und die Notwendigkeit, ihn zu erkämpfen, bewusst werden lässt.
Viele Arbeiter, die bis zu diesem Abend 1918 von Konzertbesuchen ausgeschlossen waren, begannen nach diesem Erlebnis sich künstlerisch zu betätigen. Bereits bei der Leipziger Beethoven-Feier 1927 zum 100. Todestag des Komponisten führte das Gewandhausorchester gemeinsam mit sechshundert Arbeitersängern der sogenannten Michaelschen Chöre mit großer Hingabe die 9. Sinfonie in einer Messehalle auf. Auftrittsverbote der Faschisten unterbrachen die Fortführung dieser Tradition.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges knüpfte man in Leipzig an diese Tradition an und ließ sie – jetzt als Gewandhauskonzert – wieder aufleben: Im damals einzig noch erhaltenen größeren Saal, im Filmtheater „Capitol“ auf der Petersstraße erklang 1945 die erste Silvesteraufführung nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus. Fortan erklang die „Neunte“ alljährlich zu Silvester, jedoch am späten Nachmittag. Denn ein Teil der Gewandhausmusiker eilte anschließend zur abendlichen Opernaufführung.
Am 30. und 31. Dezember 1978, genau auf den Tag 60 Jahre nach dem ersten Konzert, kam es zu einer umjubelten Aufführung des Beethovenschen Werkes. In der vorübergehend zur größten Musikhalle Leipzigs ausgestatteten Messehalle 2 erlebten an diesen zwei Abenden achteinhalbtausend Leipziger und Gäste die Neunte Sinfonie. Es war keine Äußerlichkeit, sondern gehörte gewissermaßen zur Erfüllung der Tradition jenes denkwürdigen Silvesterkonzertes 1918, dass in den vordersten Reihen der 1978er Aufführung neben den Erbauern des neuen Gewandhauses auch zwei Leipziger Bürger Platz genommen hatten, die 60 Jahre zuvor dabei waren: Ernst Erhard, damals 18 Jahre alt und arbeitslos, war vom Leipziger ABI mit dem Kartenvertrieb für alle Veranstaltungen betraut worden. Nach seinem Dienst an der Abendkasse hörte er die Sinfonie: „Ich erlebte, wie nach nicht enden wollendem Beifall Arthur Nikisch dem Initiator der Veranstaltung, unserem beliebten Arbeiterchor-Dirigenten Barnet Licht, innerlich bewegt, den Taktstock überreichte.“ Und Elfriede Vogel hatte als Mitglied eines Leipziger Chores, den später Barnet Licht leitete, eine Freikarte bekommen und erlebte ihr erstes großes Konzert: „Ich war sehr glücklich, die tief beeindruckende Musik Beethovens zu hören, aber auch die einmalige persönliche Ausstrahlung Arthur Nikischs erleben zu dürfen.“
Das Gewandhausorchester wird am 31. Dezember 2014 – am Ende jenes Jahres, in dem wir dem 100. Jahrestag des Weltkriegsausbruches gedenken – zum 70. Mal das Silvesterkonzert mit der Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven veranstalten. Und ich werde wieder am Fernseher dabei sein.
Hans-Jürgen Schwebke lebt in Berlin.
Schlagwörter: Arthur Nikisch, Hans-Jürgen Schwebke, Leipzig, Neunte