von Paul Günzel
Immer, wenn ich das Wort „Douaumont“ sehe und höre, taucht aus der Unzahl jener grausigen Erinnerungsbilder, die sich in der „großen Zeit“ von 1914 bis 1918 unaufhörlich dem Gedächtnis Einprägten, folgende Vorstellung klar und zwingend wieder auf:
Graue, regnerische Märznacht 1915. Die 4. Kompagnie des Reserve-Infanterie-Regiments 37 steht im vordersten Graben auf der Höhe 307 vor Verdun. Bis an die Knie stehen wir im klebrigen Schlamm, denn die Gräben waren seinerzeit noch sehr primitiv, sie entsprachen noch nicht ganz jenen urgemütlichen Phantasiebildern, wie sie später illustrierte Zeitungen den Daheimgebliebenen vorführten. Von 6 Uhr abends bis zum Hellwerden am andern Morgen stehen wir im Graben, das Gewehr aufgepflanzt im Arm, Kugelhandgranaten vor uns auf dem Grabenrand, starren in die schweigende Nacht und denken unser Teil. Schlafen darf niemand. Das heißt mit einer Ausnahme. Der Herr Kompagnieführer ruht sanft und selig in seinem „Wigwam“; nur dann und wann erscheint er auf der Bildfläche, schimpft den Graben entlang, um sein kurzes Gastspiel wieder im mollig geheizten Unterstand zu beenden. Aber der Unterstand war nicht im Graben, sondern weiter „hinten“, wo die „Luft reiner“ war. Wir stehen und starren, fluchen, dösen in Stumpfsinn die Stunden hin und warten auf den Franzmann, der nicht kommt!
Plötzlich steigt am schwarz rauen Nachthimmel ein blendend heller Streifen hoch, vor uns, hinter den Höhen von Verdun. Der Streifen zuckt am Himmel hin und her, er sucht Zeppeline, die nicht kommen. Mein Gruppenführer kommt zu mir: Er zeigt mir am Ende eines Höhenrückens, dessen Konturen düster und wuchtig vor dem Scheinwerferkegel sich erheben, ein eckiges, klotziges Massiv.
„Damit du es weißt, das ist der Douaumont!“
„Das Fort Douaumont?”
„Ja. dort weiter links das Fort Vaux.“
„Warum greifen wir es denn nicht an?“
„Schafskopp, das ist uneinnehmbar!“
Er musste es ja wissen, denn er war seit September 1914 hier, und wir, Ersatz aus Norddeutschland, standen die erste Nacht im Graben!
Uneinnehmbar! Hm. – Wenn – ja wenn!
Wieder starre ich zum Massiv hinüber. Furchtbar, unheilschwanger liegt es da. Was birgt es? Können nicht jeden Augenblick seine großen Geschütze Tod und Verderben uns senden?
Tönt doch von rechts her dumpfer Kanonendonner zu uns herüber. Argonnerwald. Und weit links Leuchtkugeln, Combres-Höhe.
Hier und da ein Schuss.
Noch eine Zeit tanzt der Lichtstreifen vor uns, betastet die dicken, tiefen Regenwolken, zuckt hin und her – verschwindet. Wieder dunkle, grausige Nacht. – – –
Wir klappern vor Frost. – – –
Bis im Osten es dämmert. Langsam, langsam kommt der neue Tag herauf. Die erste Lerche steigt empor und jubiliert dem Lichte entgegen.
Da nehmen 200 müde, zerschlagene Männer das Bajonett herunter und schleichen gebückt, zurück durch den Laufgraben. Hinter der Höhe, in feuchten, muffigen Stollen, sinken sie in todähnlichen Schlaf.
*
1927! Ein leuchtender Sommersonnentag spannt seinen tiefblauen Bogen über die blühende Erde. Wieder bin ich vor Verdun! Irgendetwas war es, das all die Jahre nach dem Kriege am Herzen fraß, das da sog und zog und drängte, bis – nun, bis man sich an einem gesegneten Ferientage auf die Bahn setzte und dorthin fuhr, wo ungeheuerstes Geschehen einst Herz und Hirn bis ins letzte Fäserchen erschütterte. Sagt man doch, dass es den Verbrecher unwiderstehlich nach dem Schauplatze seines Verbrechens ziehe. Sollten wir Verbrecher wider Willen hier eine Ausnahme machen? Aber wir sind doch keine Verbrecher! Wir handelten doch im guten Glauben! Ja – Ja?
Ja, wir waren alle Opfer des Triumphes der Lüge, der tausendmal verfluchten Lüge! So konnte es geschehen, dass wir Soldaten wurden, dass wir die Waffen gegen die kehrten, die man ebenso schändlich belogen hatte! So machte uns die Lüge zu Mördern, die man mit Kreuzen behängte, dem Zeichen der christlichen Nächstenliebe. – – –
Nachdem ich mit lieben Freunden in Frankreich durch Vermittlung des Esperanto Verbindung angeknüpft habe, reiste ich im Sommer 1927 hin nach der Stadt, die mit blutigen Lettern im Buche der Geschichte verzeichnet steht, nach Verdun. Da sah ich die alte Stadt, der 1916 unsere Sehnsucht galt, in der Hoffnung, dass nach ihrer Eroberung der heiß ersehnte Frieden bald kommen werde. Jetzt sah ich sie, halb noch in Trümmern, halb neuerbaut.
Und Freund Lefebre führte mich hinaus aufs Schlachtfeld, hinaus in das Trichterfeld mit all seinen traurigen Trümmern jener „großen Zeit“ der Vernichtung. Links und rechts der neugebauten Straße, soweit das Auge reicht, nur Granattrichter größten Kalibers, auf deren Grunde, zum Teil im Wasser, „Blindgänger“ jeglicher Größe liegen. Immer wieder ist der Boden von neu einschlagenden Geschossen aufgewühlt worden. So durchwühlt ist er, so tief haben sich Minen und Granaten mit dem grässlichen Geheul ihres Berstens in den Boden gebissen, dass man es aufgegeben hat, diese Landesteile zunächst wieder zu kultivieren. Sie bleiben liegen. Und was Menschen in ihrem Wahn in blinder Wut zerstörten, Mutter Natur, die allgütige ists, die mit liebender Hand die Wunden heilt, die Menschirrsinn ihr schlug. Der arme, blutgedüngte Boden, bedeckt und durchsetzt mit Menschenresten, mit Tuch, Leder, Holz, Metallen usw. ist fruchtbar geworden. Überall grünt und blüht es, mit leuchtenden Farben bedeckt sind die Ränder der Trichter, und ganz wie 1915 strömt die Kamille ihren betäubenden Duft aus. Hoch oben im Ätherblau jubilieren sonnenfrohe Lerchen.
So sitze ich denn im Sonnenbrand des Julinachmittages auf den Trümmern des Forts Douaumont. Auf dem Stahldeckel des Artilleriebeobachtungsturmes, der die Spuren manches Splitters aufweist, haben wir uns niedergelassen und lassen stumm die Blicke umherschweifen.
So weit von West über Nord gen Ost das Auge reicht: der Höllenkrater von Verdun, die Hinrichtungsstätte von rund einer Million Menschen (600.000 Deutsche und 400.000 Franzosen sind hier gefallen). Zu ihrem Gedenken baut man etwa 500 Meter hinter uns ein riesiges Totenmal. Dicht dabei in einem großen Holzhaus liegen, sorgfältig aufbewahrt in riesigen Holzsärgen, die mühsam gesammelten Knochenreste von vielen tausend Gefallenen. Von dort führt ein Laufgraben zum Fort, d.h. zu seinem Trümmerhaufen. Auf einer Straße führen Autos Besucher heran. Ich höre englische Laute. Junge, französische Soldaten führen mit Laternen durch die Kasematten. Es soll lebensgefährlich sein. Ich bleibe auf dem Turmrande sitzen. Rechts die Trümmer des Forts Vaux. An seinem Abhange leuchtet es blutrot auf, als flösse dort ein Blutstrom – ein Mohnfeld ists. Links weit hinten der flache Rücken des „Toten Mannes“, die Höhe 304. Vor uns die fürchterliche Granatenschlucht, auch Totenschlucht genannt. Weiter nördlich der Fosses-Wald, Caurieres-Wald und Chaume-Wald. Ganz im Hintergrunde die Höhen von Romagne, wo seinerzeit der berühmte Beobachtungsturm stand. Rechts davon die Höhen 307 und 310 mit den anschließenden Waldungen, und dahinter die hohen Pappeln der Straße nach Longnyon. Sommerzauber über allem! Versöhnender Sonnenglanz über dem geschändeten Boden. Scharf duftet die Kamille, blutrot leuchtet der Mohn, sorglos jubiliert die Lerche im Blau.
Und im Herzen ein Sturm, ein Zorn, eine Trauer, ein Verzweifeln!
Musste das sein?! Waren es Menschen, die das taten?! Waren es nicht entwichene Tollhäusler!?
Du dumpfe Menschheit, wirst du die Kraft bekommen, dir ein zweites Verdun zu ersparen? Und wenn es schon sein muss, dann überlasse jenes kommende Verdun deinen Peinigern. Dazu finde wenigstens den Mut! – – –
Noch ein wehmutsvoller Gruß hinüber zur Höhe 307, dann lenken wir unsere Schritte zurück zum Totenmal, wo unser Auto wartet.
Aus einem Granatsplitter aller Art suche ich mir einen heraus, jetzt liegt er auf meinem Schreibtisch. Und hart wie sein Stahl ist mein Wille, mit aller Kraft mitzuarbeiten an der erhabenen Idee des Weltfriedens! Die Toten von Verdun mahnen, nicht abzulassen von jenem Kampf für eine bessere Zeit. Und wenn wir nur alle wollen, dann wird jene ersehnte Zeit einst leuchtende Wirklichkeit.
Der Bremer Volksschullehrer Paul Günzel (Jahrgang 1886) nahm als Gefreiter und Unteroffizier 1915/16 an den Kämpfen vor Verdun teil. Sein Bericht erschien erstmals in Das Andere Deutschland, Nr. 51/52, 22.12.1928.
Schlagwörter: Douaumont, Paul Günzel, Verdun, Weltfrieden