von Thomas Zimmermann
Das muss man auch erst einmal drauf haben! Da stellt sich jemand vor das Münchner Landgericht und skandiert: „Ich halte mich für einen exorbitanten Ausnahmefall. Auf mich ist das Gesetz nicht anwendbar.“ Was vielleicht so mancher Steuersünder heimlich denken mag, hat Georg Kaiser im Frühjahr 1921 genauso ausgesprochen. Da stand er wegen Unterschlagung vor Gericht. Gleich zwei Villen hatte er angemietet und deren Inventar verhökert, um deutlich besser leben zu können als seine Mittel erlaubten. Nun aber war sein bisschen Restvermögen beschlagnahmt und waren seine Kinder in ein Armenhaus eingewiesen worden. Und Kaiser selbst musste erst einmal auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht werden, baute er sich doch allen Ernstes vor dem Richter auf und tönte: „Ich bin namenlos groß.“
In dem skandalträchtigen Gerichtsprozess versuchte Kaiser der deutschen Öffentlichkeit klar zu machen, dass für ihn als Autor andere als die gewöhnlichen Regeln gelten würden, dass er eben mal eine halbe Million Reichsmark unterschlagen dürfte – gerade weil er eben Autor war.
Hier prallten, wie sonst so hart nie wieder in der Weimarer Republik, zwei Welten frontal aufeinander: In der Literatur war Kaiser, der jährlich zwei neue Stücke auf die Bühnen brachte, tatsächlich ein „exorbitanter Ausnahmefall.“ So weit oben am Theaterhimmel schwebte zur selben Zeit nur Gerhart Hauptmann. Wenn überhaupt. Kein Dramatiker wurde seit 1917 häufiger gespielt als Kaiser – und ein Ende dieses Höhenflugs war um 1920 noch längst nicht in Sicht.
In der anderen Welt aber, in der Realität fernab des Theaters und der Fiktion, galt Kaiser als schnöder Verbrecher. Aber im Fall Kaiser siegte letztendlich – einmalig in dieser Größenordnung – die Literatur doch ein wenig über die Rechtsprechung: Seine Haftstrafe fiel vergleichsweise gering aus, der Verleger Gustav Kiepenheuer bürgte für den haushoch verschuldeten Kaiser (welcher Verleger würde das heute für einen Autor wagen?).
Und so ging die Camouflage namens Georg Kaiser nahezu ungehindert weiter: Der einstige Klosterschüler aus Magdeburg gab sich als Einsiedler von Grünheide (Mark), der seinen Uraufführungen und dem Publikum fern blieb und nur aus sich selbst schöpfte. Tatsächlich aber imitierte er Kollegen, schlachtete Zeitungsmeldungen aus und plagiierte seine eigenen Texte: Kaiser spürte literarische Trends auf, noch bevor sie welche wurden. So schummelte sich der Mittdreißiger unter die viel jüngeren Expressionisten. Die schrieben mit Herzblut, Kaiser mit Kalkül: Seine Stücke Die Bürger von Calais, Von morgens bis mitternachts und die Gas-Trilogie – und das ist wohl die Ironie der Geschichte – überdauerten die meisten ernster gemeinten, weil mitempfundenen Texte des expressionistischen Jahrzehnts.
Kaiser schrieb kritische Volksstücke, bevor Ödön von Horváth seine Komödien als solche bezeichnete. Er legte mit Kurt Weill Revuestücke vor, als Bert Brecht noch fernab der Dreigroschenoper war. Und er sah den NS-Staat vorher – aber genau da liegt die Krux des Modeschreibers Kaiser: Mehr routinierter „Denkspieler“ der Struktur, wie ihn der Kritiker Bernhard Diebold lobschimpfte, als Mann des Inhalts, kam ausgerechnet sein politischstes Zeitstück, Der Silbersee, als nebulöses Märchen daher. Es konnte im Februar 1933 noch aufgeführt werden, dabei provozierten SA-Männer in Leipzig eine Theaterschlägerei, die zum Anlass genommen wurde, Kaisers komplettes Werk zu unterdrücken.
Der Vielschreiber starb just in diesem Moment, als ihm die Bühne versagt wurde. Sein bisschen übrig gebliebene körperliche Existenz folgte ihm im Jahr 1945 tief verbittert. Das Nachleben ist auf den Bühnen dünn und in seiner Heimat dumm: Ausgerechnet der doch eher spät in das literarische Treiben Eingestiegene dient Sachsen-Anhalt als Namensgeber für einen Förderpreis junger Schriftsteller. Etwas skurril, möchte man meinen. Noch skurriler aber, dass sich Kaisers Heimatstadt Magdeburg nicht seinetwegen, sondern mit Bezug auf Otto I. inoffiziell als Kaiser-Stadt rühmt. Hier wie da scheint der einst so bedeutende Schriftsteller ordentlich abhanden gekommen zu sein.
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