17. Jahrgang | Nummer 14 | 7. Juli 2014

Postmoderne Gelehrtheit

von Bernhard Romeike

Gert G. Wagner, Jürgen Gerhards und Michael Mutz sind etablierte Gestalten im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik an der renommierten Technischen Universität Berlin und Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Das DIW gilt als das größte deutsche Wirtschaftsforschungsinstitut. Mutz ist Professor für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaften der Universität Göttingen und Gerhards Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie und Geschäftsführender Direktor des Soziologie-Instituts der Freien Universität Berlin.
Diese drei Herren haben sich etwas Besonderes gegönnt. Sie haben vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft eine Prognose erstellt, wer Fußballweltmeister wird, und diese im DIW Wochenbericht 24/2014, gleichsam als „richtiges“ Forschungspapier veröffentlicht (auch Der Spiegel, 23/2014). Danach kommt Spanien wieder ins Finale der Fußballweltmeisterschaft und wird mit größter Wahrscheinlichkeit wieder Weltmeister. Für das Achtelfinale wurden Brasilien, Niederlande, Kolumbien, England, Deutschland, Russland, Frankreich und Bosnien-Herzegowina auf der einen Seite prognostiziert und Spanien, Kroatien, Italien, Elfenbeinküste, Argentinien, Schweiz, Belgien und Portugal auf der anderen Seite. Bekanntlich sind jedoch England, Russland, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Italien, Elfenbeinküste, Portugal und vor allem Spanien bereits nach der Gruppenphase abgereist. Damit liegt die Prognose in Bezug auf den Weltmeister zu 100 Prozent daneben und die zu den Teilnehmern des Achtelfinales zu 50 Prozent daneben. In Bezug auf die vorausgesehenen Paarungen des Achtelfinales war nur eine von acht richtig: Argentinien gegen die Schweiz. Bei den Spielen im Viertelfinale sind wieder zwei Paarungen zutreffend prognostiziert, Argentinien – Belgien und Deutschland – Frankreich.
Damit schwankt die Zuverlässigkeit der Prognose zwischen 100 Prozent daneben, 12,5 Prozent zutreffend und 50 Prozent daneben bzw. zutreffend. Sie liegt so unter dem Prognosewert von Oktopussen oder Pinguinen, die die Fische aus dem „richtigen“ Eimer fressen. Die Frage nun ist, was bringt Leute wie diese, die eigentlich gut saturiert an ihren Unis sitzen, dazu, eine solche Prognose zu publizieren, noch dazu in den als besonders renommiert geltenden DIW Wochenberichten? Gut, man könnte sagen, Professor Wagner hat einen kurzen Zugriff auf diese Berichte und konnte das veranlassen. Andererseits jedoch macht so etwas kein Wissenschaftler, der auf sich hält, wenn er nicht fest davon überzeugt wäre, dass seine Methoden und damit die Ergebnisse seiner Arbeit begründet und damit zutreffend wären.
Zur Methode wird mitgeteilt, man habe eine „Marktwert-Methode“ zur Anwendung gebracht. Der „liegt die Überlegung zugrunde, dass sich die Spielstärke von Fußballteams heutzutage gut in Geldwert ausdrücken lässt, wodurch Prognosen einfach werden“. Es sei ein „globaler Spielermarkt entstanden“ und Fußballspieler seien zu einer „weltweit gehandelten ‚Ware‛ geworden“. Die Spieler stünden auf der ganzen Welt unter „Dauerbeobachtung“ und deshalb sei der Marktwert der Spieler auch global vergleichbar. Die „Marktwert-Methode“ besage, „dass die Mannschaft mit dem teuersten Spielerkader auch die spielstärkste Mannschaft ist und deshalb wahrscheinlich ein Turnier oder eine nationale Meisterschaft gewinnen wird“. Deshalb haben die drei Prognostiker ein Finale zwischen Spanien und Deutschland unterstellt, denn der spanische Kader sei 622 Millionen Euro „wert“ und der deutsche 526 Millionen. Selbstredend werden im Text verschiedene Relativierungen vorgenommen. Der Wissenschaftler als solcher will sich ja rückversichern. Aber dennoch: die Prognose als solche wurde erstellt und publiziert. Offenbar meinte man, so eine Lanze für die Grundannahmen des Neoliberalismus, des globalisiert „freien Marktes“ brechen zu können. 2006 und 2010 seien mit Italien und Spanien die Mannschaften mit den höchsten Marktwerten Weltmeister geworden, weshalb also die „Marktwert-Methode“ sich bewährt habe und nun getrost zur Öffentlichkeit gebracht werden könne.
Das ist gründlich in die Hose gegangen. Das heißt, wenn die Prognose so völlig falsch ist, wie oben beschrieben, sind auch und vor allem die inhaltlichen und methodischen Grundannahmen falsch. Fußball lässt sich so nicht begreifen. Und wenn die Devise: „Geld schießt Tore“ richtig wäre – und Bayern München würde immer, Jahr für Jahr Sieger in der Bundesliga –, dann würde sich am Ende das Publikum mit Grausen abwenden. Es entfiele der Unterhaltungsfaktor, den das Spiel hat, solange es nicht mit Geld vereinseitigt und monopolisiert ist. Bei Marx gab es einen Unterschied zwischen Gebrauchswert und Wert. Das heißt, der „Wert“ eines Fußballers kann spekulativ überhöht sein und sein „Gebrauchswert“ höher, als der eines höher gehandelten. Das ist der Spekulationsfaktor, hinter dessen Rücken sich der Unterhaltungswert unter Umständen wieder herstellt.
Zu Ende gedacht bedeutet das aber, dass wohl alle Prognosen, die solcherlei Wissenschaft anstellt, nicht besser sind als diese, egal ob es um die Weltkonjunktur, die Aktienkurse oder die regionale Wirtschaftsentwicklung in den nächsten Jahren geht. Es gibt mehr Variablen und Faktoren, als in die Formeln passen. Deshalb kann diese Wissenschaft immer nur rückwärtsgewandt betrachten, was war, aber nicht zutreffende Aussagen darüber treffen, was sein wird, Krisen und Einbrüche nicht vorhersehen. Die Gesamtentwicklung auch nicht. Kurzum, neoliberale Wirtschaftswissenschaft und Soziologie, Glaskugeln, Kaffeesatz oder der Oktopus im Becken erreichen in etwa einen gleichen Annäherungsgrad an die Wahrheit. Aber die gibt es im postmodernen Wissenschaftsverständnis ja ohnehin nicht.
Trotzdem werden wir am 13. Juli wissen, wer tatsächlich Fußballweltmeister 2014 geworden ist. Auf dem Platz, mit dem real existierenden Ball.